Erfahrungen in einem Gewerbegebiet in Stuttgart-Vaihingen/Möhringen zeigen das große Potenzial für das Fahrrad als umweltfreundliches Pendlervehikel. Aber es hakt an einer überraschenden Stelle.
Es fehlt an Ladesäulen und Abstellplätzen – gleichzeitig sorgt ein neues staatliches Förderprogramm für eine massive Nachfrage nach elektrischen Vehikeln. Wo sie abstellen? Und wie sie laden?
Die Rede ist nicht von E-Autos – es sind elektrische Fahrräder, so genannte E-Bikes. So ist beispielsweise das Stuttgarter Bauunternehmen Züblin bei seiner Zentrale in Möhringen von einem enormen Nachfrageschub nach elektrischen Fahrrädern überrascht worden, berichtet der kaufmännische Vorstand Stephan von der Heyde.
Leasingräder sind überraschender Erfolg
Binnen sechs Wochen haben 158 der 2000 Arbeitnehmer am Standort bei einem neuen, steuerbegünstigten Leasingprogramm für Fahrräder zugeschlagen – zum üppigen Durchschnittspreis von 4200 Euro, was nahelegt, dass hier viele teure E-Bikes darunter sind.
Dass dies keine Anekdote ist, unterstreicht eine von der Wirtschafts- und Industrievereinigung Stuttgart organisierte Mobilitätsstudie im Rahmen des von der Stadt Stuttgart unterstützten Klimaschutzprojektes Kiss im sogenannten Synergiepark in Stuttgart-Vaihingen/Möhringen, dem größten Gewerbegebiet der Stadt.
Pendeln per Rad seit 2019 verdreifacht
Das Fahrrad und insbesondere das E-Bike ist hier bei den Pendlern der wichtigste Treiber der Mobilitätswende – wohl begünstigt durch die Lage außerhalb des Stuttgarter Talkessels. Während Auto und öffentlicher Nahverkehr im Vergleich zu einer Untersuchung aus dem Jahr 2019 Anteile verloren, hat sich der Anteil des Fahrrads von vier Prozent auf zwölf Prozent der Fahrten zum Arbeitsplatz binnen drei Jahren verdreifacht.
Und diese Entwicklung dürfte sich fortsetzen: Auf die Frage, wie man sich vorstellen könnte, aus ökologischen Gründen sein Mobilitätsverhalten zu ändern, nannten an erster Stelle 17 Prozent den Umstieg aufs Fahrrad, 15 Prozent erst auf Platz zwei den öffentlichen Nahverkehr. In der Zentrale von Züblin sind es heute täglich 30 bis 50 E-Bikes, die dort abgestellt werden. Dazu kommen bei gutem Wetter 150 normale Fahrräder.
Fahrrad als unwillkommener Bürogast
Doch der Trend schafft neue Probleme: Viele Mitarbeiter scheuen sich, ihre teuren Zweiräder an den bisherigen, meist wenig geschützten Plätzen abzustellen.
Auch kleinere Firmen, wie etwa das Gesundheitsunternehmen Rehamed, das mit etwa 50 Mitarbeitern in Stuttgart-Vaihingen ambulante Rehabilitation anbietet, kennen das Problem: „Meine Mitarbeiterinnen wollen ihre teuren Räder nicht draußen abstellen, sondern bringen sie ins Büro“, sagt die Geschäftsführerin Claudia Dose-Kraft. In diesem Fall sind es konventionelle Fahrräder.
Spezialproblem E-Bikes
Bei E-Bikes werden die teuren Akkus und Ladegeräte ins Büro genommen, berichtet Züblin-Vorstand von der Heyde: „Da hatte der Brandschutzbeauftragte Bedenken.“ Die provisorische Lösung lautet, die Mitarbeiter zu bitten, die Akkus zu demontieren und in brandgeschützten und diebstahlgesicherten Spinden zu deponieren.
Mehr als hundert solcher Spinde hat man eigens angeschafft. Auf dem Gelände kann man Fahrräder geschützt entweder in der Tiefgarage abstellen oder in einem kameraüberwachten Fahrradraum mit 110 Stellplätzen sowie oben beschriebenen Spinden.
Kostenlose Ladestationen
An 48 Ladespinden ist das Aufladen kostenlos. Diese Ladeplätze sollen so gesichert werden, dass die Demontage der teuren E-Bike-Bauteile überflüssig wird. „Wir suchen hier noch nach geeigneten Möglichkeiten“, sagt von der Heyde.
Züblin hat auch die Zahl der Duschen für verschwitzte Radler auf acht mehr als verdoppelt. „Aber uns fehlen noch Umkleiden und Aufbewahrungsorte für die Fahrradkleidung“, sagt der Züblin-Vorstand. Im Zuge einer Gebäudesanierung will man die Rad-Infrastruktur in den kommenden Jahren systematisch ausbauen.
Die Installation von Duschen war hingegen beim kleinen Unternehmensnachbar Rehamed kein Thema: „Wir brauchen die eh für Kunden und Mitarbeiter,“ sagt Chefin Dose-Kraft.
Fahrrad so flexibel wie das Auto
Das Fahrrad werde auf kürzeren Strecken eher als Alternative zum Auto wahrgenommen als zum öffentlichen Nahverkehr, sagt der an der Kiss-Mobilitätsstudie beteiligte Verkehrsexperte Jörg Schönharting. Wie das Auto ist es jederzeit verfügbar und an kein Fahrkartenabo gebunden.
In Zeiten des wechselnden Arbeitens zwischen dem Büro zu Hause und im Betrieb ist dies ein Vorteil. Bei schlechtem Wetter wartet in den meisten Haushalten sowieso das Auto in der Garage.
Wohin mit all den Rädern?
Die Unternehmen würden überrollt, sagt Marcus von Drygalski vom Beratungsunternehmen Dornier Consulting in Stuttgart: „Die bekommen die Massen von Fahrrädern gar nicht unter.“
Die Ansprüche der Mitarbeiter etwa an die Abstellmöglichkeiten würden höher: „Sie werden es nicht schaffen, für alle Räder einen geschützten Platz zu finden – das müssen sie dann eben über eine Versicherung lösen.“ Dann seien Beschädigungen oder Verlust zwar ärgerlich, fallen aber nicht zu Lasten der Firma oder der Mitarbeiter.
Mobilitätsstudie im Synergiepark
Studie
2019 ist im Rahmen des Projektes „Klimaschutz Impulse für Synergiepark Stuttgart“ (Kiss) von der Wirtschafts- und Industrievereinigung Stuttgart (WIV) eine Mobilitätsstudie mit 42 Unternehmen und 4500 Befragten erstellt worden. 2022 wurden Mitarbeiter hier auch wegen der Veränderungen zu Corona noch einmal zum Mobilitätsverhalten befragt.
Mobilitätsverhalten
Das Auto bleibt auch 2022 das Maß der Dinge: 98 Prozent der Beschäftigten haben einen Führerschein, Dreiviertel haben fast immer ein Auto zur Verfügung. 63 Prozent nutzten im vergangenen Jahr das Auto auf dem Weg zur Arbeit – sechs Prozentpunkte weniger als 2019. Ein Minus beim Anteil gab es auch beim öffentlichen Nahverkehr: 23 Prozent im Jahr 2022 stehen 26 Prozent 2019 gegenüber. Zugleich hat sich mit zwölf Prozent der Anteil der Radler im Vergleich zu 2019 mit vier Prozent verdreifacht.