Einsam ist es am Gleis 8 des Hauptbahnhofs: Links sichern Stützen das Dach. Deshalb kann es nur noch mit Einschränkungen benutzt werden. Foto: Leif Piechowski

Zuverlässige Schnellbahnen, ganz überwiegend zuverlässige Anschlüsse, das war Pendler-Alltag in der Region Stuttgart. Seit dem 9. Oktober gibt es diesen Alltag nicht mehr. In der Hauptverkehrszeit ist inzwischen jede dritte bis vierte S-Bahn um mehr als sechs Minuten verspätet.

Stuttgart - Die S-Bahn ist das Rückgrat des Verkehrs in Stuttgart und der Region. 360.000 Menschen nutzen die signalroten Züge jeden Werktag auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule oder in ihrer Freizeit. Zehntausende dieser Reisenden aber hadern seit Anfang Oktober mit dem System. Vor allem in der Hauptverkehrszeit zwischen 7 und 8 Uhr sind die von der DB Regio AG betriebenen Schnellbahnen völlig aus dem Takt.

„Die Zeitspanne zwischen 7 und 8 Uhr ist durch die dichte Zugfolge massiv von Verspätungen betroffen“, sagt Jürgen Wurmthaler, der Infrastrukturdirektor des Verbands Region Stuttgart (VRS). Die Bahn fährt die Züge im Auftrag des Verbands. Im dichten Takt stauten sich die S-Bahnen rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof, sagt Wurmthaler. Nur noch 65 bis 75 Prozent der Pendelzüge sind weniger als fünf Minuten und 59 Sekunden verspätet, so Wurmthaler. Das habe man durch eine eigene Erhebung in den letzten zehn Tagen ermittelt. Die Vorgabe für DB Regio lautet 98 Prozent. Die Bahn spricht übrigens bei fünf Minuten und 59 Sekunden von einer „Fünf-Minuten-Pünktlichkeit“. „Das ist Bahnjargon“, so der Verkehrsdirektor. Tatsächlich seien bis zu einem Drittel aller Züge „um sechs Minuten oder mehr verspätet“.

Der Grund für die anhaltende Pünktlichkeitsmisere liegt nicht an der S-Bahn selbst. Er liegt im Stuttgarter Hauptbahnhof. Am 9. Oktober wurde nach einer Entgleisung – es war innerhalb von vier Monaten die dritte an der Weiche Nummer 227 – Gleis 10 gesperrt. Außerdem steht nur noch ein kleinerer Teil von Gleis 8 zur Verfügung. Auf dem größeren Teil sichern Stahlstützen und Betonblöcke das große Bahnsteig-Hallendach bei Sturm vor dem Abflug. Die Umbauarbeiten an Dach und Weichen sind Bauschritte für das Großprojekt Stuttgart 21.

„Wir müssen zusätzliche Züge über die S-Bahn-Gleise abwickeln“

Die S-Bahn taucht im Gleisfeld des Hauptbahnhofs in ihre innerstädtische Tunnelstrecke ab. Dennoch ist sie von den Gleissperrungen stark betroffen. Spezielle S-Bahn-Gleise gebe es nur in diesen Tunnelstrecken, sagt ein Stuttgarter Bahn-Sprecher. Ansonsten sei die S-Bahn „im gesamten Netz auf Mischstrecken unterwegs“. Im Gleisfeld des Bahnhofs spreche man zwar von S-Bahn-Gleisen, auf denen verkehrten aber auch Nahverkehrszüge. Durch die Gleissperrungen gebe es seit dem 9. Oktober Kapazitätseinschränkungen, und die führten „in der Rushhour dazu, dass sich Züge stauen“.

„Wir müssen zusätzliche Züge über die S-Bahn-Gleise abwickeln“, so der Bahn-Sprecher. Die Frage, ob Fern- und Nahverkehrszüge generell Vorrang bekämen, verneint er. Verspätungszahlen könnten über das Internet abgerufen werden. Auch für Stuttgart? „Soweit ich weiß, geben wir Verspätungen nicht spezifisch raus“, lautet die abschließende Antwort. Die Zeiten der Transparenz und Aufklärung, in denen die Bahn ihre Pünktlichkeitswerte täglich auf Tafeln am Bahnsteig notierte, sind längst vorbei.

Wann die Misere der S-Bahn endet, steht in den Sternen. Die Arbeit der für die Unfallaufklärung an der Unglücksweiche zuständige Bonner Ermittlungsbehörde dauert an, und sie dauert in der Regel Monate, im Durchschnitt sogar an die zwölf Monate.

Ärger auch durch Umstellungen beim Tarif und lange Schlangen

Prellbock für Beschwerden ist der Verkehrsverbund Stuttgart (VVS). Hier glühen die Drähte. 99.400 telefonische Kundenanliegen wurden von Januar bis Oktober gezählt, fast 3000 mehr als im Vorjahreszeitraum. Außerdem gab es 12.900 schriftliche „Anliegen“, wie die VVS-Pressestelle informiert – 2000 mehr als 2011. Man führe den Anstieg aber „nicht nur auf die Entgleisungen zurück“, sagt Sprecher Philipp Krammer. Ärger für die Kundschaft gab es auch durch Umstellungen beim Tarif und lange Schlangen von Erstsemester-Studenten. Deshalb explodierten die Telefon-Beschwerden im September auf 16 314.

VVS-Geschäftsführer Thomas Hachenberger, selbst Pendler, will die Probleme nicht kleinreden. „Vor allem aus der Region, aus Leonberg, Herrenberg, Böblingen, von der Schönbuch- und Ammertalbahn kommen massive Beschwerden. Die Leute müssen umsteigen und erreichen ihren Anschluss nicht mehr“, so Hachenberger. Busse und Anschlusszüge könnten nicht zu lange warten, sagt sein Kollege Horst Stammler, weil sie „auf dem Rückweg die Anschlüsse ja wieder erreichen müssen“.

Nur wenige Sanktionsmöglichkeiten gegenüber der Bahn

Die Pendler erwarteten zu Recht baldige Besserung, fordert Jürgen Wurmtaler von der Bahn eine Lösung. Einzelne S-Bahn-Verbindungen komplett zu streichen, wie es 2010 der Fall war, als die Bahn die Züge durch den Abbau eines Signals im Hauptbahnhof aus dem Takt brachte, lehnt er kategorisch ab. „Es kann nicht sein, dass wir das weiter ausbaden“, sagt Wurmthaler. Der direkte Partner DB Regio bemühe sich nach Kräften. Im großen Bahn-Konzern aber ist die DB Netz AG für die Infrastruktur zuständig. Wurmthaler: „Die Netz AG ist aufgerufen, Lösungsvorschläge zu bringen.“

Der Regionalverband hat gegenüber dem Auftragnehmer Bahn nur wenige Sanktionsmöglichkeiten. „Wir zahlen die geforderten Abschläge zurzeit nicht komplett“, sagt Wurmthaler. Das liege aber nicht an den Verspätungen, sondern an „Unstimmigkeiten“ in der Auslegung sprunghafter Preiserhöhungen für die Gleisnutzung.

269,2 Millionen Euro stehen im VRS-Haushalt 2012 für die S-Bahn, den Verkehrsverbund und Stuttgart 21. Genau 1,1 Millionen beträgt die maximal mit der Bahn vereinbarte jährliche Strafzahlung, wenn diese Zielwerte bei Pünktlichkeit, Sauberkeit und Sicherheit nicht erfüllt. Dauerhafte Unpünktlichkeit wird mit maximal 400.000 Euro sanktioniert.