Die Fläche unter der Paulinenbrücke ist inzwischen beliebt. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Einige Anwohner klagen seit Monaten über den Trubel, über zu viel Lärm und Wildpinkler unter der Paulinenbrücke. Seit über 40 Jahren ist dort aber auch ein Treffpunkt der hiesigen Alkohol- und Drogenszene. Die fühlen sich nun vertrieben.

Stuttgart - Seit Jahrzehnten trifft sich unter der Paulinenbrücke die hiesige Wohnungslosen-Szene. Auf der rechten Seite stadtauswärts war ihr Platz, der Platz war für diese Gruppe so etwas wie ein Zuhause, an dem sie auch ein kleines „Gedenkgärtchen“ gepflanzt haben.

Die Baustelle für eine neue Treppe hat ihnen nun ihren Platz genommen. Seit einigen Wochen trifft sich die Szene deshalb direkt unter der Paulinenbrücke. „Durch die Baustelle sind wir hier hergekommen“, erzählt Marvin an einem Mittwochvormittag. Er sei häufig hier, befinde sich „auch in der Substitution“, wie viele andere aus seiner Gruppe auch. „Ich kann verstehen, dass viele Anwohner uns da weghaben wollen“, sagt er. „Aber die Leute haben auch Vorurteile gegen uns.“ Sie würden oft pauschal als „Junkies“ bezeichnet.

Die Wohnungslosen fühlen sich vertrieben

Bis November will das Tiefbauamt die Arbeiten für die neue Treppenanlage abgeschlossen haben – sofern es keine wetterbedingten Verzögerungen gibt. Dann wäre der Platz wieder frei. Doch wäre das die Lösung, wenn die Gruppe sich einfach wieder auf der anderen Seite trifft? Marvin ist überzeugt, vieles wäre schon einfacher, wenn man direkt mit ihnen spräche, wenn es Probleme gibt.

Der Österreichische Platz ist die Verbindung zwischen dem Süden und dem Bezirk Mitte. Lange war dort nur ein Parkplatz und der Treffpunkt jener Szene. Die „Paule“ galt früher als „größter sozialer Brennpunkt Stuttgarts“. Mit dem Abriss der Shell-Tankstelle hatte sich die Lage beruhigt. Das schmuddelige Image blieb. Lange versuchte die Stadt dagegen anzugehen. Die Lösung sahen viele in Form des Einkaufszentrums Gerber und des Caleido, einem Bürokomplex mit Fitnessstudio und schicken Restaurants. Als Brennpunkt würde man die Ecke nicht mehr bezeichnen, höchstens als Brennpunktle.

Wo Armut auf Luxus und Party trifft

Seit über einem Jahr ist an dem Ort der Verein Stadtlücken aktiv, der den Bereich für alle Bürger zugänglich machen und verschönern wollte. Seitdem ist es abends häufig voll unter der Brücke. Einige Anwohner und Ladenbesitzer haben das Gefühl, die Situation sei längst eskaliert. Sie klagen über ständigen Lärm, Wildpinkler und über die täglichen Polizeieinsätze aufgrund der Wohnungslosen- und Drogenszene. Die werde auch immer größer.

Eine Nachbarin, die seit zehn Jahren dort wohnt und arbeitet, hat grundsätzlich Verständnis für die Armen. Sie brauchten den Ort. Sie kennt viele mit Namen, bringt auch Lebensmittel vorbei. „Ich habe hier alles erlebt, selbst Menschen mit der Nadel im Arm vor meiner Haustür.“ Aber in den letzten Monaten habe sich viel geändert: „Es gibt den ganzen Tag Geschrei, die Leute pinkeln in unseren Hof. Ich kann mich dem nicht mehr entziehen.“ Die Anwohnerin ergänzt: „Es ist so laut, so nah. Ich fühle mich total zurückgedrängt.“

Wem gehört die Stadt? Nirgends in der Innenstadt entzündet sich die Debatte über diese Frage wohl so sehr wie derzeit unter der Paulinenbrücke. Raiko Grieb, Bezirksvorsteher im Süden, hatte auf diese Frage kürzlich bei einer Podiumsdiskussion eine deutliche Antwort: „Nicht dem Gerber, nicht dem Caleido, nicht St. Maria, auch nicht mir, sondern allen.“

Manche Nachbarn fühlen sich inzwischen selbst verdrängt

Doch ist das wirklich so? Conny Krieger hat den Eindruck, viele wollten die Wohnungslosen schleunigst loswerden. „Dabei sind die seit Jahrzehnten hier.“ Krieger engagiert sich über die Kirchengemeinde St. Maria seit Jahren an der Paulinenbrücke. „Alle sagen schöne Sätze über Armut. Aber wir müssen uns kümmern, wenn vor unserer Tür arme Menschen durch Gentrifizierung verdrängt werden.“ Man müsse gemeinsam in der Stadt nach Lösungen suchen, findet sie.

Doch wie findet man eine Lösung, wenn so viele verschiedene Schichten an einem Ort aufeinandertreffen? Oft sind die Berührungsängste groß. An der Paulinenbrücke treffe „Armut auf Luxus“, sagt Stadträtin Laura Halding-Hoppenheit (Linke). „Das Besondere an diesem Platz ist, dass Armut dort ein Gesicht bekommt.“ Ihr Eindruck ist: „Die Menschen werden sichtbar, das passt vielen nicht.“ Die Stadträtin kommt jeden Mittwoch vorbei, bringt Brötchen, gibt den Leuten 50 Cent für die öffentliche Toilette. Sie findet das „Wildpinkeln“ auch schlimm: „Es muss eine kostenlose Toilette her.“

Das Medmobil kümmert sich um die soziale und medizinische Akutversorgung

Mittwochs ist auch das Medmobil der Ambulanten Hilfe dort. Die Ärztin Barbara Holzbauer, die Sozialarbeiterin Andrea Günther und die Krankenschwester Elisabeth Warmer helfen den Menschen mit sauberen Spritzen, medizinischem Rat und Gesprächen. Die drei Frauen haben nicht den Eindruck, dass sich die Gruppe vergrößert hat. Andrea Günther sieht die Aufregung über die Wohnungslosen auch sehr kritisch: „Ich habe den Eindruck, der Druck auf Randgruppen, die man nicht möchte, nimmt immer mehr zu.“ Man könne in dieser Ecke veganes Eis essen, zum Japaner gehen oder einkaufen. „Das hat alles mit Konsum zu tun.“ Es brauche aber eben auch Räume für Menschen, die kein Geld haben, sagt Günther.