Im Lockdown 2020 gründete sich der Paule Club – um den Suchtkranken zu helfen, die sich sonst unter der Paulinenbrücke treffen. Das Besondere: Die Mitglieder des Clubs kommen selbst aus der Szene.
Unter der Paulinenbrücke in der Stuttgarter Innenstadt ist am Vormittag einiges los. In kleinen Grüppchen treffen sich dort Obdachlose, Suchtkranke, Substituierte und vom Leben Gebeutelte. Sie unterhalten sich, hören Musik. Hin und wieder wird es in einer Gruppe lauter, wird diskutiert. Hunde bellen sich zur Begrüßung an. Passanten laufen vorbei, vielleicht ein bisschen schneller als sonst, und verschwinden im Einkaufscenter Gerber nebenan.
Auch Simon und Iva Wittke sowie Marvin Kouabenan gehören der Szene unter der Paulinenbrücke an. Sie sind selbst ehemalige Suchtkranke, doch seit vielen Jahren substituieren sie, ohne rückfällig geworden zu sein. „Wir sind eigentlich ganz normal. Nur, dass wir morgens zum Arzt gehen müssen, um die Medikamente zu bekommen“, sagt Iva. Simon geht es an diesem Tag nicht so gut. Er und seine Frau diskutieren kurz, dann geht er. Iva und Marvin bleiben, denn sie haben noch etwas zu tun. Während Iva von einem jungen Mann angesprochen wird, der noch unbedingt etwas mit ihr bereden möchte, geht Marvin los, um Warmhalteboxen mit gespendetem Essen abzuholen.
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Er baut einen kleinen Klapptisch auf, vor dem sich schnell eine Schlange bildet. Gegen 12 Uhr verteilt er das Essen an die Menschen, die sich unter der „Paule“ treffen. Seit 40 Jahren schon ist dieser Platz für die Sucht- und Obdachlosenszene eine Art Zuhause. Zahlreiche Initiativen haben sich schon mit ihnen beschäftigt. Aus Sicht der Betroffenen aber nicht immer in ihrem Sinne. „Wir wollten nicht mehr, dass alle über uns bestimmen. Wir wollten es selbst in die Hand nehmen“, sagt Marvin.
Die Isolation machte viele Suchtkranke depressiv
Iva, Simon und Marvin gründeten den Paule Club, als der Lockdown 2020 die Situation der Menschen hier unerträglich machte. Es galt ein coronabedingtes Versammlungsverbot, die Leute durften sich nicht mehr unter der Brücke und auch sonst an keinem anderen Ort in der Stadt treffen. „Die Polizei sagte, wir sollen nach Hause gehen. Aber hier sind viele Obdachlose. Wo sollten die denn hin?“, schildert Marvin die Situation. Die Menschen, die ohnehin schon am Rande der Gesellschaft leben und sich täglich mit zahlreichen Problemen auseinandersetzen müssen, traf die Pandemie besonders hart. „Viele wurden durch die Isolation depressiv“, sagt Iva Wittke.
Die drei vereinte zunächst der Wunsch, den Suchtkranken zu helfen. Und so organisierten sie mit Unterstützung der Bürgerstiftung und der Heilsarmee für sechs Wochen Essensausgaben. Essen, das auch Trost in einer schwierigen Zeit spendete. „Das Interesse daran war groß und die Leute gewöhnten sich daran, dass wir da waren. Also haben wir weiter gemacht“, sagt Marvin.
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Selbstbewusst schrieben sie an die Filialleiter von Aldi oder Yormas und bekamen auch dort Lebensmittel gespendet. Der Paule Club kümmert sich auch um den Spritzentausch, gibt Kleider- und Sachspenden aus oder kümmert sich um Kunstaktionen. Geldspenden wollen sie dagegen nicht annehmen. „Es heißt ja immer, Suchtkranke können nicht mit Geld umgehen. Das stimmt zwar nicht, aber wir wollen erst gar keinen Verdacht gegen uns aufkommen lassen“, erklärt Iva.
Die Mitglieder des Paule Club finden in der Stadt Gehör
Inzwischen hat der Club an Bedeutung gewonnen. Sowohl für die Suchtkranken, als auch für andere Menschen in der Stadt. Ob Hilfsorganisationen, Politiker oder Kunstschaffende – viele von ihnen hören sich nun an, was die Mitglieder des Paule Club zu sagen haben und planen mit ihnen zusammen Aktionen. Auch mit dem Bürgerpreis wurde der Club bereits ausgezeichnet.
Unter ihrem Motto „Auch wir sind Stuttgart“ wollen die Mitglieder des Paule Clubs dazu beitragen, dass Suchtkranke entstigmatisiert werden. „Man kann mit uns reden, wir wollen niemandem etwas Böses. Bei der Sucht handelt es sich einfach um eine Krankheit“, betont Iva. Obwohl sie zu der Szene unter der Paule dazu gehören, sind sie doch etwas Besonderes. Denn sie haben es geschafft, mit den Drogen aufzuhören. Iva und Simon werden darüber hinaus um ihre Ehe beneidet. „Wir sind schon seit fünf Jahren glücklich zusammen. Das ist hier eine Seltenheit.“
Reue über die verlorenen Jahre
Doch obwohl die drei auf ihrem Weg schon einiges erreicht haben, kämpfen sie nach wie vor noch mit ihren eigenen Problemen und mit ihrer Geschichte. Marvin, der mit 17 Jahren bei seiner Mutter rausflog, daraufhin anfing, Kokain und Herion zu konsumieren und schließlich im Gefängnis landete. Mit 35 Jahren träumt er nun von einer Familie und davon, Sozialarbeiter zu werden. Iva, die es trotz ihres alkoholkranken Vaters zunächst schaffte, eine Ausbildung zur Kfz-Mechanikerin abzuschließen, doch irgendwann von der Wut auf ihren Vater überwältigt wurde. Auch sie nahm Drogen und verlor dadurch wertvolle Jahre, wie sie selbst sagt. „Ich bereue es, dass ich zehn Jahre meines Lebens verschwendet habe. Heute ekle ich mich vor den Drogen“, sagt sie.
Eines Tages wollen die Mitglieder des Paule Club ihre eigenen Ziele verwirklichen, der Paule und vielleicht sogar ganz Stuttgart den Rücken zukehren. Doch bis dahin wollen sie noch etwas aufbauen, das bleibt, und ihre Arbeit an mögliche Nachfolger übergeben.