Anja Rumig hat die Dreyer-Schau für das Kunstmuseum erarbeitet Foto: Kunstmuseum/cn

Das Kunstmuseum Stuttgart überrascht mit einer umfassenden Schau zum Werk von Paul Uwe Dreyer. Was Dreyer interessant macht? Kuratorin Anja Rumig erklärt es.

Stuttgart - Der engagierte Künstler Paul Uwe Dreyer, Rektor der Kunstakademie Stuttgart und Vorsitzender des Deutschen Künstlerbundes, war rau, herzlich und direkt – und spürte in Malerei und Zeichnung den Schwingungen der Linie und räumlichen Denkmodellen nach. Das Kunstmuseum Stuttgart entdeckt Dreyers Schaffen nun neu. Von 16. Oktober an ist die Schau mit Bildern und Zeichnungen aus allen Werkphasen zu sehen. Erarbeitet hat die Ausstellung Anja Rumig. Verantwortlich für den Nachlass Dreyer und ein nun vorliegendes Werkverzeichnis, agiert die Kunsthistorikerin als Gastkuratorin. Wie sieht sie das Projekt? Was macht das Werk Paul Uwe Dreyers spannend? Anja Rumig gibt Antworten.

 

Frau Rumig, welchen Paul Uwe Dreyer werden wir im Kunstmuseum erleben – den, der die scharfe Linie feiert oder jenen, der uns in vielfach ineinander verbundene Farbräume entführt?

Das Publikum wird sowohl den einen als auch den anderen Paul Uwe Dreyer erleben. Die Ausstellung steht konzeptionell in Verbindung mit dem bei der Dr. Cantz’schen Verlagsgesellschaft gerade erscheinenden Werkverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken des Künstlers. Sie gibt einen chronologischen Überblick über die ganze Bandbreite des Dreyer’schen Oeuvres, vom Beginn der 1960er Jahre bis ein Jahr vor Dreyers Tod 2008.

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Und was zeigt sich?

Es wird unter anderem ersichtlich werden, dass die Linie seit den frühesten Arbeiten in vielfältiger Ausprägung über alle Schaffensphasen hinweg eine wesentliche Rolle für Paul Uwe Dreyers gestalterische Definition von Raum spielt und so auch für die Wirkungsweise der komplexen, ineinander verschränkten Farbräume des Spätwerks mitverantwortlich ist.

Herausgeberin des Werkverzeichnisses

Sie betreuen den Nachlass und das Werkverzeichnis. Wie kommt es jetzt zu Ihrer Rolle als Ausstellungsmacherin?

Das ist schnell erläutert. Als Herausgeberin und Bearbeiterin des Werkverzeichnisses wurde ich vom Kunstmuseum Stuttgart als Gastkuratorin eingeladen, für diese erste gattungsübergreifende Retrospektive an entsprechend repräsentativen Exponaten die Werkentwicklung Paul Uwe Dreyers anschaulich zu machen. Eine wunderbare Aufgabe.

Dreyers „enorme Präsenz“

Sie haben Paul Uwe Dreyer ja vielfach erlebt. Als Person wuchtig und buchstäblich raumgreifend, als Maler und Zeichner dagegen ein Künstler, der sich dem großen Thema Raum eher vorsichtig, in der Zeichnung vielleicht sogar fast zart nähert. Wie haben Sie diesen Widerspruch erlebt?

Ja, in der Tat, es zeichnete ihn eine enorme physische, stimmliche und geistige Präsenz aus, an der man erst mal – ebenfalls buchstäblich – nicht einfach so vorbeikam. Für mich war diese Herausforderung überwiegend gewinnbringend, weil ich davon meistens etwas Bedenkenswertes mitgenommen habe. Paul Uwe Dreyer hatte ein hohes Berufsethos, das er zugunsten der ganzen Künstlerschaft auch lautstark verteidigte.

Und wie sehen Sie das heute?

In seiner Kunst empfand und empfinde ich ihn bis heute nicht weniger herausfordernd, denn auch darin zeigt er sich als Nonkonformist, indem er über traditionelle Richtlinien beispielsweise der konkret-konstruktiven Kunst hinausgehend und stets an persönlichen Erfahrungen und Einsichten orientiert, überraschende, ja frappierende Form- und Farbverbindungen als materialisierte Modelle von Wirklichkeit entwickelte. Weniger „vorsichtig“ als vielmehr schrittweise und folgerichtig hat sich Paul Uwe Dreyer seine Variationen von Bildräumlichkeit erschlossen, wobei sich Malerei und Zeichnung immer gegenseitig befruchtet haben. Dreyers Kompositionen sind durchweg sowohl zweidimensional als auch dreidimensional lesbar – daher rührt vielleicht Ihr Eindruck seiner „vorsichtigen“ Annäherung an den Raum.

Das Solo der Linie

Paul Uwe Dreyer hat sich früh entschieden. Das Konkret-Konstruktive wollte er zum Klingen bringen – nicht aber im poetischen Sinn, sondern buchstäblich der Linie entlang. Das kann man auch als Begrenzung eines Lebenswerkes sehen. Wie sehen Sie es?

Ein wichtiger Punkt. Tatsächlich ist, wie schon skizziert, die Linie, auch in ihrer Ausprägung als Band oder Balken, für die Kompositionen des Künstlers von elementarer Relevanz. In Dreyers zeichnerischem Werk erleben wir sie in einem virtuosen Soloauftritt. Doch selbst dort werden Flächen- und Raumzonen immer mit eingeschrieben. Das heißt, die Linie ist nie alleiniger Hauptakteur, sondern stets ein Teil dessen, was die Gesamtwirkung der Kompositionen bestimmt.

Landen wir also immer im Raum – oder vorsichtiger: im Räumlichen?

Die Architektur der Bilder basiert auf dem konstruierten Zusammenspiel des Neben- und Übereinanders geometrischer Farbflächen, die durch den dynamischen Linienverlauf einerseits, als einer der ersten Schritte im Konstruktionsprozess, und durch die farbtonalen Kontraste andererseits auf der Bildebene und im Bildraum verortbar werden. Im Fokus steht immer ein mehrdimensionales Ganzes, das die Dominanz eines Gestaltungselements per se ausschließt. Insofern und damit zurück zur Bedeutung der Linie – ich erkenne in der Linie keinerlei „Begrenzung“ des Dreyerschen „Lebenswerkes“.

Durchatmen im eigenen Atelier

Noch ein Widerspruch: Paul Uwe Dreyer verstand sich als ausgesprochener Kunstpolitiker, stritt auf vielen Ebenen für die Interessen der Kolleginnen und Kollegen. Seine Kunst aber scheint bewusst apolitisch. War ihm die Kunst so in gewisser Weise sowohl Raum des Anlaufnehmens als auch des Durchatmens?

Zunächst einmal bin ich überzeugt davon, dass jede:r Künstler:in über seine sonstigen Engagements hinaus sich am liebsten in seinem/ihrem Atelier aufhält, um sich seiner/ihrer eigentlichen Profession zu widmen, die ja häufig der Impuls ist für alle anderen Aktivitäten. Das war bei Paul Uwe Dreyer nicht anders. Als ich in den 1990er Jahren eine Zeit lang an der Akademie für ihn arbeitete, zeigte er sich voller Freude, wenn ein Wochenende bevorstand, an dem er mal wieder in sein Atelier gehen und malen konnte. Die genuine, gestalterische Weiterarbeit am eigenen Ideenkomplex spendete ihm Genugtuung sowie Energie, seine Überzeugungen nach außen zu tragen.

Keine Kunst zum Ausruhen

Welche Überzeugungen sind das?

Das inhaltliche Anliegen seiner Kunst besteht darin, Prinzipien der Wirklichkeit in einem breiten thematischen Spektrum – gesellschaftlicher, kultureller oder naturwissenschaftlicher Art – mit abstrakten Mitteln zu metaphorisieren und ihre Variabilität zur Anschauung zu bringen. Dreyers Titel, mit denen er seine Bilder versehen hat, sprechen davon, so beispielsweise „Emblem für ein befreites Land“ (1970), „Landschaftslinie 1 +2“ (1978), „Afrikanische Serie 1-4“ (1989), „Denn was innen, das ist aussen 1-4“ (1997/98), „Klapp-Scharniere“ (2007). Dreyers Kunst ist dialektisch, intellektuell und in ihren Mitteln unorthodox: keine Kunst zum Ausruhen, weder für den Künstler selbst noch für sein Publikum.

Und wo ordnet sich das Schaffen von Paul Uwe Dreyer aus Ihrer Sicht heute in die deutsche Kunst seit den 1960er Jahren ein?

Aus meiner Sicht lässt es sich unter keine gängige Stilrichtung subsumieren. Dreyer hat zu Beginn seines Schaffens in den frühen 1960er Jahren, die Aufbruch bedeuteten und die Suche nach neuen künstlerischen Formaten mit sich brachten, eine ganz eigene Ikonographie entwickelt, die auf der Abstraktion von Gegenständlichem, der Symbolhaftigkeit des Ornamentalen und der Verweiskraft des Emblematischen basierte. Auf dieser Grundlage entfaltete sich ein stringentes und gleichzeitig vielfältiges Werk, das den Wenigsten in seiner Bandbreite bekannt ist.

Dreyer interessierte „alles Gebaute“

Aber es gibt doch Schubladen – auch für Dreyer. ..

Natürlich. Gemeinhin wird er als konkret-konstruktiver Künstler gehandelt, doch damit wird man der komplexen Thematik und der Fülle seiner Gestaltungsideen nicht gerecht. Dreyer sagt schon früh von sich, dass ihn „alles Gebaute und Konstruierte“ interessiere und von daher ist es nachvollziehbar, dass ihm die stilistischen Mittel der konkret-konstruktiven Kunst mehr entsprachen als jene einer gestischen Kunst.

Und wie sehen Sie seine Rolle?

Ich stehe ganz auf der Seite von Simone Schimpf, 2013 bis 2021 Direktorin des Museums für Konkrete Kunst Ingolstadt, jetzt Leiterin des Neuen Museums Nürnberg, die in ihrem Essay zum Werkverzeichnis den Werken des Künstlers Zeitlosigkeit und Modernität gleichermaßen attestiert und vorschlägt, ihn „ein wenig mehr aus der Formalistenecke der Konkreten Kunst zu ziehen“, da es sich „ letztlich zeige, dass die kunsthistorischen Etiketten eben mehr verhindern. als aufklären.“

Erstmals Werke aus allen Arbeitsphasen

Und das wird in der Ausstellung spürbar werden?

Ja, absolut, und dies ist auch eine der wichtigsten Intentionen der chronologischen Präsentation von Exponaten zum ersten Mal aus allen Schaffensperioden des Künstlers.

Paul Uwe Dreyer in Kürze

1939
 in Osnabrück geboren, studiert Paul Uwe Dreyer an der Werkkunstschule Hannover und der Hochschule für Bildende Künste Berlin.

1970
 erhält Dreyer den Rom-Preis – damit verbunden ist ein Arbeitsaufenthalt in der Villa Massimo.

1972
 wird er an die Kunstakademie Stuttgart berufen, 1974 zum Professor ernannt.

1987
 wird Dreyer Rektor der Kunstakademie Stuttgart (bis 1991). 1998 bis 2004 übernimmt er das Amt ein zweites Mal.

1992
 bis 1997 ist er Erster Vorsitzender des Deutschen Künstlerbunds und forciert dessen nationale und internationale Präsenz.

2008
 stirbt Paul Uwe Dreyer am 10. November in Stuttgart.

Ausstellung
Die Schau zu Dreyers Gesamtwerk im Kunstmuseum Stuttgart wird am 15. Oktober um 19 Uhr eröffnet. Eine Anmeldung ist erforderlich.

Begleitbuch
Zur Ausstellung erscheint das von Anja Rumig erarbeitete Werkverzeichnis in der Dr. Cantz’schen Verlagsgesellschaft (DCV).