Gelbe Schilder mit biografischen Daten von Opferns des Nazi-Grauens im weißrussischen Minsk sind während der Zeremonie zur Enthüllung des Denkmals an einem Baumstamm befestigt. Foto: dpa

Dieser Tage ist mit Malyi Trostenec eines der Zentren des Nazi-Massenmords dem Vergessen entrissen worden. Der Berliner Autor Paul Kohl hat dazu einen Roman geschrieben – der auf Fakten basiert.

Minsk/Stuttgart - Auschwitz kennt jeder, Treblinka und Majdanek viele, Malyi Trostenec hingegen kaum jemand. Tatsächlich zählt dieser Ort nahe der weißrussischen Hauptstadt Minsk zu den größten Vernichtungsstätten der Nazis während der Zweiten Weltkrieges. Rund 200.000 Menschen, viele Juden, aber auch Zivilisten aus Minsk, Kriegsgefangene und Partisanen sind in dem abgelegenen Waldstück zwischen 1942 und 1944 von den Nazis ermordet worden. Die meisten wurden erschossen und in Massengräbern verscharrt, von Kommandos, die täglich acht Stunden im Akkord „gearbeitet“ haben, an fünf Tagen in der Wochen, die Wochenenden waren frei. Viele wurden auch in umgebauten Lastwagen vergast.

Erst vor wenigen Tagen hat der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko und seinem österreichischen Amtskollegen Alexander van der Bellen eine Gedenkstätte in der einstigen Todeszone eröffnet. Dass diese Stätte des Grauens erst siebzig Jahre später dem Vergessen entrissen worden ist, hat auch mit der sowjetischen Erinnerungskultur zu tun, in deren Mittelpunkt der heldenhafte Sieg über den deutschen Faschismus stand und das Schicksal der Juden allenfalls beiläufig behandelt wurde. Während Auschwitz, Treblinka und Majdanek, heute fest verankert im Gedenken an den Holocaust, allesamt auf polnischem Boden errichtet worden waren, ist Malyi Trostenec die einzige Vernichtungsstätte, die sich auf der Fläche der damaligen Sowjetunion befand.

Historischer Roman, der auf Tatsachen basiert

Es gibt also einiges nachzuholen. Einen schnellen, gleichwohl schwer verdaulichen Zugang zur grausigen Geschichte von Malyi Trostenec bietet der Berliner Autor Paul Kohl an, der rund um die Geschehnisse des von den Nazis besetzten Weißrusslands einen historischen Roman verfasst hat, der im Frühjahr im Kölner Emons Verlag erschienen ist. „Der Jude, der Nazi und seine Mörderin“ basiert auf historischen Tatsachen. Kohl verwebt die Lebensgeschichten von vier Menschen, mit denen er teils zu deren Lebzeiten noch persönlich gesprochen hat.

Dies waren Anita Kube und Jelena Masanik. Erstere ist als Ehefrau Wilhelm Kube, Nazi der ersten Stunde, wegen wüster Korruption in Ungnade gefallen und als Generalkommissar nach Minsk abgeschoben, ins von Partisanenattacken durchlöcherte Nazi-Weißrussland gefolgt. Jelena Masanik indes ist die Partisanin, die ihren Dienstherrn mit einem Anschlag ins Jenseits beförderte. Als vierte (in diesem Fall indes fiktive, aber beispielhafte) Lebensgeschichte schildert Kohl das Schicksal des Berliner Juden Gustav Heimann und dessen Familie, die von den Nazis entrechtet, enteignet, nach Minks deportiert und dort umgebracht werden.

Das Grauen begleitet den Leser

Wer die 347 Seiten liest, braucht starke Nerven. Paul Kohl schildert die vier Leben episodenhaft, beginnt beim Aufstieg der Nazis, der Entrechtung der Juden, macht weiter mit dem grausamen Wüten der Nazis nahe und hinter der Ostfront – und geht mit seinen Schilderungen an die Grenze zum Degoutanten. Aber was hilft’s? So ist es halt gewesen damals. Kohl nimmt seine Leser mit auf die Deportationen, bei der Berliner Juden wie Vieh in Waggons zusammengepfercht werden und verhungernd neben einem Bottich ausharren müssen, aus dem zunächst Kot und Urin schwappen, um später darin zu gefrieren. Tote Menschen werden wie Abfall aus dem Zug geworfen, wer flüchten will, wird niedergeschossen. Immer mehr werden das Grauen und der massenhafte Tod zum Begleiter des Lesers.

Die nackte Angst der Partisanen vor der Enttarnung, von denen manche unfreiwillig und nur unter dem Druck sowjetischer Agenten mitmachen, schildert Kohl ebenso kühl und einem Chronisten gleich wie den Rassenwahn des Obernazis Wilhelm Kube, der in Akteneingaben an die Berliner Zentrale unterschieden wissen möchte zwischen den „kultivierten, westlichen Juden“ und den osteuropäischen „tierhaften Horden“, die es ohne zweifel „auszumerzen“ gelte. Und dann ist da noch Kubes Ehefrau Anita, die sich mit der Partisanin Jelena Masanik anfreundet, und der es bis zum Schluss gelingt, das grausige Wüten ihres Ehemanns zu verdrängen. Das Herz geht ihr noch auf, als die zerfetzten Überreste Wilhelm Kubes in Berlin bei einem Staatsbegräbnis beigesetzt werden. Da rücken die Fronten aber schon aufs Deutsche Reich zu und Anita Kube kann dies nur noch im besetzten Prag übers Radio anhören.

Der Leser bleibt zurück in weitgehender Trostlosigkeit angesichts dessen, wie ein totaler Zivilisationsbruch Millionen Menschen in den Höllenschlund reißt – aber auch mit der Gewissheit, das so etwas nie wieder geschehen und niemals vergessen werden darf. In Zeiten, in denen sich der Rechtspopulismus bis in demokratische Parteien hineinfrisst und unbedarfte Rapper in ihren Texten die äußere Erscheinung von KZ-Insassen als vermeintlich taugliche Metapher begreifen, eine ebenso wichtige wie bedrückende Erkenntnis.

Paul Kohl: Der Jude, der Nazi und seiner Mörderin. Historischer Roman nach einer wahren Begebenheit. Emons Verlag Köln 2018. Broschur, 352 Seiten, 11,90 Euro.