Paul Kirchhof Foto: dpa

Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof mahnt zu mehr Sachlichkeit beim Bahnprojekt Stuttgart 21. 

Stuttgart - Es ist die Woche der Entscheidungen - in Stuttgart wie in Berlin. Der international angesehene Verfassungsrechtler Paul Kirchhof fordert im Interview mit unserer Zeitung mehr Ehrlichkeit bei den Topthemen Stuttgart 21 und Euro-Krise.

Herr Kirchhof, heute wird der Landtag die Weichen für die Volksabstimmung beim Thema Stuttgart 21 stellen. Wie bewerten Sie die Debatte der vergangenen Wochen?
Grundsätzlich ist es richtig, dass nicht nur Teile unserer Gesellschaft sich öffentlich empören, sondern das Staatsvolk nun Sachentscheidungen verantworten soll. Doch hier wird das Staatsvolk von Baden-Württemberg zu einer Abstimmung gebeten, für die es gar keine Berechtigung besitzt.

Warum?
Das Projekt einer Bahntrassenführung von Bratislava nach Paris über deutsches Gebiet steht in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die Finanzierungsfrage fällt allenfalls teilweise in die Kompetenz des Landes Baden-Württemberg. Ich fürchte, dass hier die Herrschaft des Geldes die Oberhand über die Sachentscheidung gewinnen soll.

Die Diskussion um Stuttgart 21 ist zuletzt eskaliert. Welche Folgen wird dies für die politische Kultur im Land haben?
Ich kann nur an alle Beteiligten appellieren, wieder zur Diskussion um die Sachfragen zurückzufinden. Erst wenn diese entschieden sind, sollte man prüfen, ob das zu finanzieren ist. Wir erleben aber eine umgekehrte Reihenfolge, bei der der Finanzier die Sachfragen zu beherrschen versucht. Die Verfassung regelt klar, dass das Geld der Sachaufgabe folgt und nicht das Geld die Sachaufgabe bestimmt.

Wie groß ist die Gefahr, dass der Streit um das Projekt auch nach der Volksabstimmung weitergeht und die Gräben trotz aller Bürgerbeteiligung tief bleiben?
Die Bahnhofsfrage hat die Bevölkerung in Stuttgart und Umgebung tief gespalten. Natürlich ist dieses Bahnprojekt ein zentrales Anliegen in Stuttgart und Umgebung. Aber man sollte nie vergessen, dass es weitaus gewichtigere Probleme bei uns und in aller Welt zu lösen gilt. Nehmen Sie nur das Beispiel Europa, die dominierende Rolle der Finanzmärkte, die Frage der wachsenden Schuldenlast unseres Staates. Dennoch war in Stuttgart in den vergangenen Monaten das Hauptaugenmerk auf den Bahnhof gerichtet. Deshalb ist es jetzt ein Gebot der Stunde, dass alle demokratischen Parteien darauf hinwirken, die Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen und zentralen Fragen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu richten. Es ist an der Zeit, dass die politischen Gewichtungen wieder so hergestellt werden, dass die Politik die großen Zukunftsfragen unabhängig von der Frage eines Bahnhofs in den Blick nimmt.

Zum Beispiel das Thema Euro und die Zukunft von Europa?
Ich beobachte mit wachsender Unruhe, wie die Staaten in der Europäischen Union und damit auch in Deutschland bereit sind, sich höher zu verschulden, als dies nach geltendem Recht erlaubt ist. Stellen wir uns einmal vor, alle EU-Mitgliedsländer hätten das geltende EU-Recht beachtet und die Neuverschuldung ihrer Staatshaushalte unter drei Prozent gehalten, die Gesamtverschuldung nicht über 60 Prozent des Inlandsprodukts ansteigen lassen. Und stellen wir uns auch einmal vor, die Europäische Zentralbank hätte ihre Unabhängigkeit bewahrt und keine Fiskalpolitik betrieben. Dann hätten wir jetzt in der EU keine Schuldenkrise.

Alle Schranken des Rechts und des politischen Anstands sind also gefallen?
Ich möchte daran erinnern, dass die EU eine Rechtsgemeinschaft ist und die Bindung an das geltende Recht als einer der elementaren Gedanken für ein funktionierendes Europa gedacht ist. Viele Staaten haben sich in den vergangenen Jahren aber nicht daran gehalten und sich damit über geltendes Recht hinweggesetzt. Das war nur möglich, weil der gesamte Finanzmarkt, also die Banken, Fonds und Versicherer, natürlich sehr gerne den Staat als Schuldner nehmen. Immerhin gilt er als nicht insolvenzfähig und bezahlt verlässlich die Zinsen. Solange die These gilt, dass der Staat niemals zahlungsunfähig werden kann, ist er für den Finanzmarkt ein bequemer Kunde.

Der Absturz von Griechenland hat nun aber das Gegenteil bewiesen.
Wir haben es hier nicht nur mit dem Phänomen zu tun, dass Banken einem Staat leichtfertig Kredite gegeben haben. Es kommt erschwerend hinzu, dass die Banken mittlerweile so vernetzt sind, dass die eine die andere mit in den Abgrund zu reißen droht, aber dennoch alle immer wieder mit neuen Rettungsschirmen geschützt werden. Dieser Schirm stellt die großen Banken ins Trockene, lässt die konkurrierenden mittelgroßen Banken im Regen stehen und bringt den künftigen Steuerzahler in die Traufe. Hier sollte eine Unabhängigkeit der Banken untereinander wieder die Freiheit des Marktes erschließen.

Die andauernde Debatte um die Euro-Krise schwächt zunehmend das Vertrauen der Bürger in Europa. Wo führt das noch hin?
Wir müssen überlegen, wie wir vertrauensbildende Maßnahmen schaffen können. Derjenige, der seine Schulden und Zinsen nicht bezahlen kann, muss energisch sparen, darf aber auch von seinen Gläubigern erwarten, dass sie ihm einen Teil der Schulden erlassen. Ich halte im Fall von Griechenland einen Schuldenschnitt für unumgänglich. Danach muss ein Neuanfang mit Unterstützung der anderen Staaten möglich sein.

Müssen wir alle umdenken, auch in Deutschland?
Die Politik muss den Bürgern klarmachen, dass der Staat vieles von dem, was er bisher für sie getan hat, angesichts der schwierigen Finanzlage künftig nicht mehr tun kann. Der Staat kann mittelfristig dem Bürger nur das geben, was er ihm vorher über die Steuern genommen hat. Das mag zu einem Abschied von liebgewordenen Gewohnheiten führen. Aber wenn wir so über unsere Möglichkeiten leben, wie dies gegenwärtig der Fall ist, dann werden wir den Weg in die Konsolidierung nicht gehen können.

Was ist zu tun?
Ich mache einen konkreten Vorschlag. Ich würde der Politik ein Gesetz empfehlen, das besagt: Immer dann, wenn die Staatsschulden um ein Prozent erhöht werden, müssen alle Staatsleistungen - also zum Beispiel die Beamtengehälter, die Industriesubventionen, die Sozialhilfe, das Bafög - um einen Prozentpunkt gesenkt werden. So erlebt jeder Bürger, was er auch bei der Finanzierung seines Hauses erfährt: Schulden sind eine Last. Niemand sollte über seine Verhältnisse leben. Aber genau das tun wir in Deutschland seit Jahren. Wenn jeder in seinem Portemonnaie erlebt, dass die Erhöhung der Staatsausgaben ihn benachteiligt, dann werden wir eine Sparergemeinschaft. Und Sparen ist überfällig.

Die Politik wird sich aus Machterhaltungsgründen dazu kaum durchringen können.
Das Grundproblem liegt woanders. Die Entscheidungskompetenz verschiebt sich derzeit von den Staatsorganen, also den Regierungen und den gewählten Parlamenten, hin zu den Einrichtungen des Finanzmarktes, insbesondere zu den Ratingagenturen. Das muss sich ändern, nur dann werden die Bürger wieder Vertrauen in Europa haben. Aus meiner Sicht müssen deshalb die Staaten der Euro-Gemeinschaft diesem Finanzmarkt gemeinsam die Stirn bieten. Es wäre verheerend, wenn ein Staat nach dem anderen unter Anreiz oder Druck der Finanzmärkte in die Nähe der Zahlungsunfähigkeit geraten würde. Stattdessen muss Europa zu einer Geschlossenheit finden und auf dieser Basis in ernste Verhandlungen mit dem Finanzmarkt treten. Wenn Europa diese Krise managt, wird es an Ansehen gewinnen und eine Macht sein. Wenn sich Europa aber ausdifferenzieren lässt und von den Finanzmärkten fremdbestimmt wird, wird es verlieren.