Im September 2015, Merkels „Wir schaffen das“ klingt ihr noch im Ohr, übernimmt Uschi Strautmann eine Patenschaft für ein Flüchtlingspaar aus dem Sudan, das mit seinen acht Kindern in Stuttgart gelandet ist. Ein Jahr später zieht sie eine ganz persönliche Bilanz.
Stuttgart - Sonntag Mittag, ich drücke zur verabredeten Zeit den Klingelknopf an der Haustür. Es tut sich erst mal nichts. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnet eines der Kinder. Ich frage, ob ich störe. Nein, gar nicht, ich solle ins Wohnzimmer gehen. Dann wieder: warten. Die Kinder schauen kurz rein, die älteren Mädchen mit Kopftuch, aber sie verschwinden gleich wieder. Irgendwann kommen sie zurück mit einem Handy oder Tablet, zeigen mir ihre neuesten You-Tube-Videos. Alles auf Deutsch, versteht sich. Das haben wir so vereinbart.
Die Familie lebt seit mehr als drei Jahren in Deutschland. Dafür ist ihr Deutsch immer noch ziemlich schlecht. Acht Kinder plus Eltern, eine Community für sich, oder besser: Ein Clan. Zuhause, wenn sie unter sich sind, sprechen sie Arabisch. So fühlen sie sich daheim.
Da habe ich mir ganz schön was vorgenommen
Hier leben die Sahars nun in einer Siedlung in bester Stuttgarter Halbhöhenlage. Die Gegensätze könnten größer nicht sein. Aber es gibt hier ein früheres Gemeindehaus, das bietet ausreichend Platz für die Großfamilie. Kontakt zu Nachbarn gibt es so gut wie gar nicht. Ich lernte sie über meine Kirchengemeinde kennen, dort hatte ich mich um eine Patenfamilie beworben. Das ist jetzt genau ein Jahr her. Mein persönlicher Beitrag zu Merkels „Wir schaffen das“. Und soviel ist mir im ersten Jahr auf alle Fälle klar geworden: Da habe ich mir ganz schön was vorgenommen.
Integration von Flüchtlingskindern, so stelle ich mir das vor, läuft zum Beispiel über Sportvereine. Alim und Nabil spielen gerne Fußball. Also melde ich sie im Verein an. Immer dienstags und freitags ist Training, eigentlich ideal. Der Vater besorgt im Gebrauchtwaren-Kaufhaus tatsächlich Fußballschuhe, ich steuere ausrangierte Trikots von meinem Sohn bei. Die ersten Male fahre ich Alim und Nabil mit dem Auto zum Sportplatz, dann sollen die Jungs (11 und 14) mit Bus und Bahn selbstständig dorthin fahren. So vereinbaren wir es. Nach einer Woche frage ich, ob’s klappt. Bauchweh und Klassenarbeiten, höre ich dann. Sie waren nicht im Training. Nach zwei Wochen: wieder Bauchweh und diesmal Hitzegewitter. Wieder nichts. Als ich nach drei Wochen wieder irgendwelche Ausreden höre, gebe ich auf. Warum das nicht funktioniert hat – ich verstehe es nicht.
Der komplette Erlkönig
Es gibt aber auch Anderes, was mich überrascht oder verblüfft: Amber, die 13-jährige Tochter, trägt mir aus heiterem Himmel an einem Sonntagnachmittag den kompletten Erlkönig auswendig vor. Den musste sie für die Schule lernen. Im Internet hat sie nachgeschaut, wie die Silben richtig betont werden. Ich bin schwer beeindruckt. Amber ist fleißig, sie hat sich vorgenommen, den Sprung von der Hauptschule aufs Gymnasium zu schaffen. Aber das ist noch ein weiter Weg. Das weiß sie auch. Die Prüfung für den Wechsel zunächst auf die Realschule hat sie im ersten Anlauf nicht geschafft, sie will es im nächsten Jahr wieder versuchen.
Immer wenn ich komme, gibt es Tee. Meistens hat die Mutter Genna Kuchen gebacken, und der Tisch steht voll mit Obst. Ich muss dann richtig zuschlagen und nachschöpfen, sonst spüre ich ihre Enttäuschung. Bei meinen wöchentlichen Besuchen bin ich umringt von der ganzen Kinderschar. Alle reden auf einmal, alle wollen mir irgendetwas zeigen, suchen meine Aufmerksamkeit. Auch die Mutter ist dabei. Der Vater allerdings saß noch nie bei uns. Auch als sie mich zum Fastenbrechen einluden, saß er im Zimmer nebenan. Er begrüßt mich immer vom Flur aus, ruft dann freundlich: „Hallo Uschi, wie geht’s“. Die Hand hat er mir noch nie gereicht. Eigentlich stört mich das, aber die Kinder können ja nichts dafür, dass sie aus einem völlig anderen Kulturkreis stammen. Der Vater hat seine Zeit in Deutschland überwiegend bei Ärzten und auf dem Krankenlager verbracht. Zwei neue Hüften, in diesem Sommer eine Bandscheiben-OP. Er ist Automechaniker, aber ob er je wieder einer geregelten Arbeit nachgehen und seine acht Kinder ernähren kann, steht in den Sternen.
Die Kinder sind seine Altersversorgung. Sie sollen es mal besser haben, sie sollen auf eigenen Füßen stehen lernen. Sagt Genna, die Mutter. Das will ich unterstützen. Damit sie eine Vorstellung vom deutschen Arbeitsleben bekommen, hat meine Freundin mit sehr viel Aufwand versucht, den ältesten Sohn für einen Ferienjob beim Daimler unterzubringen. Fast wäre es auch soweit gewesen. Doch dann hat der 18-jährige Amir uns offenbar nicht richtig verstanden. E-Mails blieben unbeantwortet, die Formulare, die wir gemeinsam mit ihm vorbereitet hatten, wurden einfach nicht abgeschickt, die Fristen ließ er verstreichen. Der Job war weg. Ärgerlich.
Montagssport mit Kopftuch
Dafür geht Alina aber jeden Montag mit mir zur Gymnastik. Bauch, Beine, Po. Es macht ihr Spaß, sich zur lauten Popmusik aus dem Ghettoblaster zu bewegen. Nach anfänglicher Skepsis nahmen sie die anderen Frauen beim Montagssport sehr herzlich auf. Wir alle warten gespannt darauf, ob Alina irgendwann soweit ist, dass sie mit uns Frauen auch ohne Kopftuch turnt.
Die Sommerferien sind rum, die Kinder waren die ganze Zeit nur zuhause. Ich wollte sie für das Waldheim anmelden, das haben sie aber abgelehnt. Erst hieß es, sie seien schon angemeldet. Dann hakte ich nach, sie waren es nicht. Und wollten auch nicht. Sicher spielt dabei eine Rolle, dass Alina, Amber, Rana, Alim und die anderen sich vor fremder Umgebung fürchten. In der U-Bahn bekommen sie immer wieder mal dumme Sprüche zu hören. Der alltägliche Rassismus. Ich sage: ihr müsst mit akzentfreiem Deutsch kontern. Sie wissen, was gemeint ist. Ich predige bei jedem Besuch, wie entscheidend das Deutschlernen ist. Sie machen sich schon fast lustig über mich, wenn ich mich mit meiner ewigen Leier „Und was müsst ihr nächste Woche lernen?!“ verabschiede: „Deutsch, Deutsch, Deutsch“, lachen sie dann.
Und tatsächlich: seit Mutter Genna endlich zum Deutschkurs geht, jetzt schon drei Monate, hat sie enorme Fortschritte gemacht. Geht doch, denke ich da. Bei den Kindern setze ich ganz auf die Integration in der Schule. Und auf die deutschen Fernsehprogramme, die sie immerhin schauen. Aber es läuft alles im Schneckentempo. Manchmal macht mich das verrückt. Vielleicht klappt’s mit dem Waldheim in den nächsten Sommerferien.
Der schönste Ferientag
Die vergangenen Wochen waren heiß, zu heiß, um im völlig überhitzten Wohnzimmer Tee zu trinken. Wir machen Ausflüge: Eis essen, Besuch auf einem Kinderfest, und einen Tag gehen wir ins Killesberg-Freibad. Zum Glück ist eine Freundin von mir dabei. Die Kinder, natürlich alle Nichtschwimmer, hätte ich allein nicht im Auge behalten können. Sie toben und planschen wild herum, sind vollkommen außer Rand und Band vor Begeisterung. Wir spielen auch Ball, essen hinterher Pommes, ein ganz normaler Freibadbesuch eben. Auch Alina scheint es zu genießen, mal raus zu kommen – obwohl sie in voller Montur mit ihrem Kopftuch die ganze Zeit unter einem Baum sitzt und uns zuschaut. Ihre Schwester Amber ist lieber gleich zuhause geblieben. Die älteren Mädchen würden wohl nur im Burkini ins Wasser gehen, aber so was besitzen sie nicht.
Als ich die Kinder dann am Abend nach Hause fahre, spüre ich deutlich: Das war ihr schönster Ferientag. Oft bedauere ich, dass ich nicht mehr Zeit für Familie Sahar habe. Eigentlich müsste ich jeden Tag bei ihnen sein, mit ihnen Hausaufgaben machen und Deutsch üben. Deutsch, Deutsch, Deutsch.
Ein ganzes Jahr kennen wir uns jetzt. Ich habe sie alle miteinander tief in mein Herz geschlossen. Und ich spüre, dass es mir auch ganz viel gibt, wenn ich bei ihnen bin. Auch wenn ich im Wohnzimmer auf sie warten muss und Verabredungen oft nicht eingehalten werden. Sie kommen aus einem anderen Kulturkreis und haben ein völlig anderes Verständnis von Raum und Zeit. Alles, was ich tun kann, ist nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Ich habe eine eigene Familie, ein eigenes Leben – und ich schaffe das nicht alleine. Aber es heißt ja auch: Wir schaffen das.
Autorin :
Die Journalistin Uschi Strautmann, Jahrgang 1961, arbeitet seit mehr als 20 Jahren beim SWR in Stuttgart und verantwortet dort alle aktuellen TV-Informationssendungen – von „Landesschau aktuell“ bis „Zur Sache“. Sie kommt eigentlich von der Zeitung, hat nach ihrem Studium in Kiel und in Freiburg unter anderem bei der Neuen Osnabrücker Zeitung ihr Handwerk gelernt und viele Jahre als Zeitungs- und Fernsehreporterin gearbeitet. Sie ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Seit einem Jahr betreut sie in Stuttgart ehrenamtlich eine Flüchtlingsfamilie aus dem Sudan.