Harte Schule: Kinder müssen lernen, dass Papa und Mama nicht immer zusammenbleiben.

Wiesbaden - Schlagersänger Howard Carpendale hat eine, Regisseur Dieter Wedel ebenfalls, der ehemalige Tennis-Star Boris Becker und Alexander zu Schaumburg-Lippe auch: Eine Patchworkfamilie. Auch Mädchen und Jungen nicht-prominenter Eltern werden in Deutschland in bunterem Familiengemisch groß als noch vor einigen Jahrzehnten. Der Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München, Prof. Thomas Rauschenbach, fordert, auf diese Gemengelage müssten Gesellschaft, Politik und Schulen sich viel stärker einstellen. "Heranwachsende müssen früh lernen, selbstständig zu werden, und sich nicht darauf verlassen, dass Papa und Mama immer zusammenbleiben."

Fast jeder fünfte der 3,4 Millionen Jugendlichen in Deutschland lebt bei einem alleinerziehenden Elternteil - meist der Mutter. Damit wird insgesamt etwa jeder vierte 14- bis 17-Jährige in einer sogenannten alternativen Familienform groß. Dazu zählen die Statistiker beim Bundesamt in Wiesbaden außer den Alleinerziehenden noch Lebensgemeinschaften ohne Trauschein und homosexuelle Paare. Der Lüwenanteil, 75 Prozent der Jugendlichen, lebt in der "traditionellen Familienform". Dazu zählen auch verheiratete Paare mit Kindern aus früheren Beziehungen, sowie mit Stief-, Pflege- und Adoptivkindern. Im Jahr 1996 waren es noch 600.000 von damals 3,6 Millionen Jugendlichen, die außerhalb klassischer Familien aufwuchsen.

"Die Gesellschaft hat bislang noch keine Antworten"

"Die Familien sind in ihren Konstellationen in den letzten drei Jahren relativ stabil. Wir müssen uns keine Sorgen machen, dass die Familie nur noch in diffuse Strukturen zerfließt", betont Rauschenbach. Im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten allerdings sei deutlich zu beobachten, "dass Kinder und Jugendliche in einem insgesamt heterogeneren Umfeld aufwachsen". Dazu gehürten auch Übergänge: "Die Eltern trennen sich, die Kinder leben eine Zeit lang mit der Mutter allein, dann findet sie einen neuen Partner."

Nach Einschätzung der Kinder-Soziologin Doris Bühler-Niederberger, Professorin an der Universität Wuppertal, hat die klassische Familie vor allem im Osten an Bedeutung verloren, im Westen sei sie hingegen recht stabil. "Die ükonomische Absicherung, die Ehe auch bedeutet, funktioniert nicht so", lautet ihre Erklärung. Und: Die meisten Einwanderer-Familien, die das traditionelle Modell bevorzugten, lebten im Westen Deutschlands.

 "Kinder und Jugendliche werden mit anderen Lebensformen und Kulturen von Migranten konfrontiert", stellt Rauschenbach fest. "Die Gesellschaft hat bislang noch keine Antworten auf die Heterogenitäten, die Kinder und Jugendliche erleben", so seine Schlussfolgerung. Dies zeige sich unter anderem darin, dass Kinder und Jugendliche, die bei Alleinerziehenden aufwachsen, stärker von Armut betroffen sind. Die Gesellschaft müsse die Kinder starkmachen und stabilisieren, um mit müglichen Brüchen umgehen zu künnen.

Politik und Schule müssen reagieren

"Stabilisierung bedeutet, den Kindern die Zumutung auf ein selbstständiges Leben abzuverlangen, sie nicht nur zu behüten." Dies beginne schon im Kindergartenalter, wenn Mädchen und Jungen nicht nur zu Hause bei den Eltern aufwüchsen, sondern in Gruppen mit anderen Kindern und Erzieherinnen Selbstbewusstsein entwickeln künnten. "Sie sollen früh lernen, sagen zu künnen, was sie wollen, und auch den Umgang mit Konflikten, eine positive Streitkultur lernen."

Politik und Schule müssen reagieren. "Die Politik hat insgesamt aus dieser gewachsenen Heterogenität bisher wenig erkennbare Schlüsse für die Jugendpolitik gezogen", sagt Rauschenbach.

Auch die Schulen müssten sich auf die unterschiedlichen Kulturen und Ressourcen ihre Schüler einstellen und offensiv damit umgehen. "Selbstständigkeit bedeutet mehr als nur das Hotel Mama als Lebensentwurf zu haben. Man kann vom sicheren Hafen Familie heute nicht mehr selbstverständlich ausgehen."

Bühler-Niederberger warnt vor Schwarzmalerei: Viele Jugendliche wüchsen zwar weitgehend ohne Vater auf, Studien zeigten aber, dass Mädchen und Jungen in der Regel ab der Pubertät ohnehin viel besser mit ihren Müttern reden könnten. "Auf der anderen Seite nehmen heute beachtlich viele Männer in Patchworkfamilien nicht-leibliche Kinder voll an. Das ist auch eine beachtliche Leistung."