Der Mann übernimmt die Führung beim Dating, und die Frau hält sich eher zurück? Viele glauben, nur so funktioniert es. Foto: IMAGO/Zoonar/IMAGO/Zoonar.com/Lars Zahner

Viele Menschen sind Single – und unglücklich. Findige Dating-Coaches haben dafür Gründe ausgemacht: die „Gleichmachung“ der Geschlechter. Sie plädieren für eine Rückkehr in die „natürliche Energie“ von Mann und Frau - zur Polarität in der Beziehung. Ein Essay.

Männer sind Jäger, Frauen sind Sammler. So war das in der Steinzeit. Inzwischen sind ein paar Tausend Jahre vergangen. Die Menschheit hat sich weiterentwickelt. Wir wohnen nicht mehr in Höhlen, die Männer müssen nicht mehr auf die Jagd, die Frauen nichts mehr sammeln. Man kommt inzwischen auch so ganz gut durchs Leben. Und heutzutage sind die Rollen der Geschlechter in der Gesellschaft ähnlicher geworden.

Nicht alle halten dies für förderlich. Glaubt man findigen Dating-Coaches in sozialen Netzwerken, ist dies nämlich der Knackpunkt, warum viele bei Dates scheitern oder manche einfach keine Beziehung finden wollen: Sie sind nicht „in“ ihrer weiblichen (oder als Mann nicht in ihrer männlichen) Energie. Soziale Netzwerke sind voll mit Empfehlungen von Beziehungscoaches, die für ein paar Hundert Euro Webinare oder Coaching-Sitzungen dazu anbieten, um „in die eigene Polarität zu finden“. Die Kurse sind nachgefragt, in den Kommentaren wird zwar viel Kritik, aber auch viel Zustimmung geäußert.

Frauen sind emotional, Männer rational – ist die Welt so einfach?

Aber was soll das sein – Polarität beim Dating? Sanft, emotional und empfangend – so sollen Frauen heutzutage wieder sein, dann sind sie in ihrer „weibliche Energie“. Die Männer hingehen: stark, dominant und führend. Die „weibliche Essenz“ sei das Yin, so beschreibt es eine Coachin, und diese sei „passiv, fühlend, hingebungsvoll“, die „männliche Essenz“ dann natürlich das Yang. Diese beschreibt die Userin als „aktiv, denkend, überlegt, ergebnisorientiert“.

Frauen, die zu sehr „fokussiert und zielorientiert“ seien, seien folglich eher in „ihrer männlichen Essenz gefangen“. Ein Männercoach wiederum schreibt dazu auf seiner Seite an Frauen gerichtet: „Du willst keinen Mann ‚mit’ dem du weinen kannst, du willst einen Mann ‚bei’ dem du weinen kannst. Großer Unterschied!“ Männer sollen also bitte wieder keine Gefühle mehr zeigen.

Und wer dies beachtet, bei dem klappt es auch mit der Partnerschaft fürs Leben. So klingt auf diesen Accounts von Coaches. Häufig liest man gar auch, dass die „natürlichen Energien“ von Mann und Frau durch die „Gleichmachung der Geschlechter“ verloren gegangen sei. Aber nur ohne diese könne man „wieder“ glückliche Beziehungen führen.

Oder doch nicht? Denn eigentlich war das ja ganz anders. Dass Beziehungen früher ein Leben lang gehalten haben, lag nicht daran, dass Männer und Frauen mehr „in ihrer natürlichen Energie“ waren. Es lag vielmehr an religiösen, sozialen, gesellschaftlichen und finanziellen Gründen, dass Paare ein Leben lang zusammenbleiben mussten. Trennung und Scheidungen waren gesellschaftlich geächtet. Früher haben Beziehungen schlicht ein Leben lang gehalten, weil sie mussten. Glücklicher als heute waren sie deswegen definitiv nicht immer.

Viele verklären traditionelle Rollenbilder

Trotzdem werden diese traditionellen Rollenbilder heute von vielen verklärt. Durch die Emanzipation und die Angleichung der Geschlechter gehe die Polarität zwischen Mann und Frauen verloren, das natürliche Yin und Yang, beklagt zum Beispiel auch der Psychologe, Buchautor und Dating-Coach Christian Hemschemeier auf Nachfrage am Telefon. In zig seiner Videos spricht er darüber, wie wichtig die „Polarität“ beim Dating wäre.

Auch viele Accounts, die sich gezielt an Frauen richten, empfehlen ihren Userinnen gerne „raus aus der männlichen Energie“ zu kommen und „eine Göttin zu werden“. Sie sind der Auffassung, Frauen sollten beim Dating den „empfangenden“ Part übernehmen und dem Mann „ wieder die Führung“ zu überlassen.

Die Coachin Nina Deißler wundert sich wiederum auf ihrer Website, warum Frauen „ihre Weiblichkeit“ verloren hätten. Emanzipierte, finanziell unabhängige Frauen seien heutzutage nicht „stark, sondern hart“, heißt es dort. Sie sehe nämlich hinter der „harten Schale“ keine echte Stärke, sondern lediglich Angst: Angst, nicht gut genug zu sein, nicht hübsch genug, nicht selbstständig genug, nicht unabhängig genug.

Deißler findet, Frauen lehnten heute zwar ihre Weiblichkeit ab, beschwerten sich umgekehrt aber, es gebe keine echten Männer mehr. „Der aktuell häufig gebrauchte Lösungsansatz der ‚Gleichmachung‘ hat die Situation nicht verbessert – eher im Gegenteil.“ Die „Lust, die Anziehung, die Verführung, die Erotik“ – all dies ginge verloren.

Irritierend ist dabei immer wieder, die Verklärung von romantischen Beziehungen in früheren Zeiten nach dem Motto „früher war alles besser“ – als die Rollen klar verteilt waren. Auch ist immer wieder von einer sogenannten „Gleichmachung der Geschlechter“ die Rede. Nun bedeutet eine Gleichwertigkeit von Mann und Frau in der Gesellschaft noch lang keine „Gleichmachung“ – auch wenn dies immer wieder behauptet wird.

Frauen neigen immer noch dazu, sich zu stark an den Mann anzupassen

Nina Deißler betont allerdings auch, „Weiblichkeit leben bedeutet nicht, dass Rollenklischee der guten Hausfrau und Mutter oder der braven Ehefrau von achtzehnhundertirgendwas zu erfüllen“. Sie plädiert vielmehr dafür, dass Frauen ihre „Freiheiten endlich genießen“, statt sich ständig „unperfekt“ oder „unvollständig ohne Mann“ zu fühlen.

„Viele von uns mutieren – kaum finden wir einen Kerl toll – zu völlig unfähigen, zaghaften Mädchen, die verklemmt, ängstlich und misstrauisch ihren Kopf in die Handtasche stecken, anstatt den Blick zu halten.“ Kaum seien diese Frauen in einer Beziehung, würden sie „zur Dienstleisterin werden, die es dem Mann um jeden Preis recht machen will und sich selbst vergisst“.

Weiblichkeit bedeute für sie, „meinen wundervollen, weiblichen Körper zu lieben, meine Intuition ernst zu nehmen, meinen weiblichen Zyklus zu achten und meine fruchtbare Kreativität und Weichheit, meine Wärme und Liebe fließen zu lassen“. Das klingt vielleicht für manche etwas esoterisch, aber dennoch ist es wesentlich differenzierter als das, was so manch andere Coaches, die gegen einen vermeintlichen „Gender-Mainstream“ oder eine „Gleichmachung der Geschlechter“ wettern, in sozialen Netzwerken zu dem Thema posten.

Ohne Polarität keine Anziehung?

Aber gibt es diese vermeintliche Gleichmachung überhaupt? Inzwischen geht man in der Wissenschaft vielfach davon aus, dass männlich und weiblich konnotierte Eigenschaften in erster Linie soziale Konstrukte sind. „Der Verweis auf feststehende biologische Tatsachen ist eine der ältesten Strategien, mit der traditionelle Geschlechterrollen und Hierarchien legitimiert und gestärkt werden. Menschliches Verhalten beruht aber nicht nur auf biologischen Faktoren wie Genen, Gehirnstruktur oder Hormonen“, schreibt die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach in einem Essay für die Heinrich-Böll-Stiftung.

Christian Hemschemeier wiederum ist aber überzeugt davon, dass es beim Dating diese Polarität von „weiblicher und männlicher Energie“ brauche. „Ohne Polarität gibt es keine sexuelle Spannung“, sagt Hemschemeier am Telefon. Weibliche und männliche Energie seien zwei Modi, die genetisch in uns angelegt seien. Diese gebe es auch bei queeren Paaren im Übrigen. Er sagt aber auch: „Frauen wollen immer noch einen Mann, der für sie sorgen kann“, ergänzt er. Dies hat er in Eigen-Empirie herausgefunden: In seinen Paartherapien höre er seit 20 Jahren, dass Frauen beklagten, sie wünschten sich einen starken, männlichen Mann.

Die richtigen Tipps dafür gibt Hemschemeier in seinen Videos: Männer sollten lieber nicht ins Fitnessstudio, denn „ein männlicher Mann“ sei ohnehin die ganze Zeit draußen und körperlich aktiv. Auch Frauen, die „vom Klettern direkt in ihrer Jack-Wolfskin-Jacke zum Date gehen“, seien oft weniger erfolgreich beim Dating, so glaubt er. Dies habe er bei einigen Klientinnen von sich erlebt. Er räumt dann aber ein, dass dies ja nur Tipps seien und letztlich jeder es so machen könne, wie er möchte. „Viele Leute reibt das Thema Polarität auf, aber viele finden es auch sehr griffig“, ergänzt er.

Die Wissenschaft kommt zu einem anderen Ergebnis

Aber sind Männer und Frauen wirklich auch biologisch so verschieden? Auf diesem Glaube fußt ja diese Theorie von einer Polarität zwischen Mann und Frau. Oder handelt es sich doch einfach nur um einstige gesellschaftliche Rollenerwartungen, die wieder rausgekramt werden? Viele wissenschaftliche Studien zeigen zum Beispiel: Abgesehen von körperlichen Merkmalen sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht sonderlich groß. Forscher um die US-Psychologen Ethan Zell und Zlatan Krizan, die 106 Meta-Analysen mit mehr als 20 000 Studien von Geschlechterunterschieden zusammenfassten, kamen zu dem Schluss, dass lediglich bei wenigen Merkmalen überhaupt Unterschiede zwischen Männern und Frauen signifikant wurden.

So zeigen sich Männer zum Beispiel teils aggressiver, sie schneiden bei der Fähigkeit zur mentalen Rotation besser ab und legen bei der Partnerwahl größeren Wert auf physische Attraktivität. Frauen sind schmerzempfindlicher, haben engere Bindungen an Bezugspersonen und zeigen größeres Interesse an Menschen als an Dingen.

Bei mehr als drei Vierteln der untersuchten psychischen Merkmale aber fanden die Forscher breite Überschneidungen zwischen Männern und Frauen – ob bei kognitiver Leistungen, Persönlichkeit, Sozialverhalten oder allgemeinem Befinden.

Gibt es spezifisch männliches oder weibliches Verhalten? Auch dabei kommt die Wissenschaft zu einer deutlichen Aussage: Lediglich bei zwei der fünf Hauptfaktoren, mit denen sich die Persönlichkeit eines Menschen erfassen lässt, haben Forscher überhaupt Unterschiede zwischen den Geschlechtern gefunden: zum einen bei der Verträglichkeit, die sich aus Facetten wie Altruismus, Rücksichtnahme, Empathie zusammensetzt, sowie zum anderen beim Neurotizismus, also emotionaler Labilität und Verletzlichkeit.

Beide Persönlichkeitsmerkmale waren bei Frauen im Schnitt stärker ausgeprägt und das kulturübergreifend. Der Unterschied war aber lediglich groß, wenn die Teilnehmer selbst ihre Persönlichkeit einschätzen sollten – nicht wenn diese in verschiedenen Tests gemessen wurde. Nun prägen Stereotype und soziale Erwartungen unser Selbstbild bereits von Geburt an. Spätestens im Vorschulalter lernen Kinder diese verschiedenen Rollenmuster und -erwartungen also täglich.

Stereotype prägen unser Verhalten von klein auf

Auch die US-Psychologin Janet Shibley Hyde von der Universität Wisconsin kam in einer der umfassendsten Untersuchungen von Meta-Analysen zu Geschlechterunterschieden zu einem ähnlichen Ergebnis wie Ethan Zell und Zlatan Krizan. Sie überprüfte Unterschiede für insgesamt 124 Faktoren, darunter mathematische und sprachliche Leistungen, Wahrnehmung, Motorik, aber auch Aspekte wie Aggression, Sexualverhalten oder Lebenszufriedenheit.

Der größte Geschlechterunterschied, den sie dabei fand: Männer werfen ein Wurfgeschoss deutlich schneller und weiter als Frauen. Auch sprinten sie schneller und haben einen härteren Griff. Merkliche Unterschiede waren tatsächlich in erster Linie in der körperlichen Natur zu finden.

Warum sind diese Theorien der Polarität zwischen Geschlechtern, die sich wie ein Magnet anziehen, also derzeit so populär? Viele Menschen tun sich heute tatsächlich schwerer, eine dauerhafte Beziehung einzugehen. Dies kann vielerlei Gründe haben: Traumata, Bindungsstörungen oder ein schlechtes Selbstwertgefühl.

Auch haben wir heute die Qual der Wahl: Denn niemand muss mehr eine Beziehung eingehen, um sozial anerkannt zu sein. Viele Singles haben es sich gut in ihrem Leben eingerichtet – ein Partner oder eine Partnerin muss also erst einmal einen größeren Vorteil haben als das Alleinleben. Erst dann entscheiden wir uns für jemanden.

Oft sind es auch eigene Unsicherheiten oder fehlende kommunikative Fertigkeiten, die es Menschen schwer machen, eine Partnerschaft einzugehen. Und ja, manchmal – so bitter dies auch ist – gibt es keine wirkliche Erklärung, warum manche Menschen lange oder dauerhaft Single bleiben, obwohl sie sich sehnlichst einen Partner wünschen. Dies führt dann oft zu Verzweiflung und Frustration. Und dies mündet dann häufig darin, dass Menschen einfachen Erklärungen glauben.

Manchmal muss man sein Pendant vielleicht einfach auch länger suchen. Die Frau mit der Jack-Wolfskin-Jacke wird vermutlich mit einem Mann, der genau so eine sportlich gekleidete Partnerin sucht – vielleicht weil er auch eher der Outdoortyp ist –, am Ende halt wohl doch glücklicher, als wenn sie sich für irgendeinen Mann ins Abendkleidchen zwingt und sich betont weiblich gibt. Niemand sollte sich für eine Partnerin oder einen Partner verstellen müssen. Letztlich ist jeder Mensch einzigartig – und deshalb gibt es auch keine Einheitstipps für Beziehungs- oder Datingprobleme. Tipps, die mit „Männer sind so, Frauen sind so“ daher kommen, sind daher immer etwas mit Vorsicht zu genießen. Die Gründe, warum Beziehungen nicht klappen oder scheitern, sind so individuell wie die Menschen.

Aber vermutlich wird niemand alleine bleiben, nur weil er nicht „in seiner natürlichen Energie“ ist beim Dating.

Dating-Tipps in sozialen Netzwerken

Coaching
Sehr allgemeine Tipps zu Liebe, Beziehungen und Persönlichkeitsentwicklung sind häufig kritisch zu betrachten. Vor allem in sozialen Netzwerken tummeln sich viele selbst ernannte Coaches oder Experten, die die einzige Wahrheit versprechen – oder verkaufen. Oft ist es schlicht Werbung für die eigenen Produkte: für Online-Kurse, Bücher oder Coaching-Sitzungen.

Ausbildung
Coaches sind keine Psychologen oder psychologische Psychotherapeuten. Der Begriff Coach ist nicht geschützt, man braucht keine Ausbildung, um sich Coach zu nennen. (nay)