Unter Genossen nicht mehr gut gelitten: Thilo Sarrazin Foto: dpa

Wie Ursula Sarrazin ihren Ehemann in einem Berliner SPD-Ortsverein verteidigt. 

Berlin - Thilo Sarrazin ist nicht gekommen. Doch seine Frau ergreift für ihn das Wort an einem Abend, an dem seine Genossen im Berliner Orstverein darüber diskutieren, warum sie ihn unterstützen, nur noch ertragen oder loswerden wollen.

Die Kühle des Designs lastet schwer von oben. Das warme Rot der Sitzbänke und Sessel aus Kunstleder ist in gedimmtes Licht getaucht, während kalt und blank Ventilatoren und Sichtblenden aus Chrom von der Decke blitzen. So also stellt sich Berlin-Westend eine typisch amerikanische Bar vor. Wie von Gottfried Helnwein gemalt, der James Dean, Elvis Presley, Marylin Monroe und Humphrey Bogart am Tresen drapiert - dem "Boulevard der zerbrochenen Träume". Tatsächlich hängen hier in der Bar am Theodor-Heuss-Platz nahe dem Berliner Olympiastadion Fotos von John F. Kennedy, seiner Frau Jackie und - in gebotenem Abstand - von Marylin. Es gibt amerikanische Schokotörtchen, Zwiebelkuchen mit Speck, Bier und Pfefferminztee. Die Getränke bestellen die 28 Gäste, um ihre Kehlen zu ölen, denn es wird hoch hergehen hier, sobald der Chef die Abendversammlung eröffnet. Die handfesten Kalorien folgen nach dem Kraftakt, drei Stunden später zur Nacht.

Ein Brief an die Genossen

Die Kühle lastet auch emotional schwer von oben auf dem warmem Rot der SPD in Berlin-Westend, denn ihr Genosse, der kühle und kühne Thilo Sarrazin, kuschelt, salopp gesagt, nicht mehr mit in der Wärmestube seiner Partei. Seit sein Buch "Deutschland schafft sich ab" in einer Gesamtauflage von nunmehr 800.000 Exemplaren in bereits 13. Auflage gedruckt wird, fragen sich viele Menschen in Deutschland, ob der Mann im Grunde Recht hat mit seinen vernichtenden Thesen zu Integration von Ausländern, aber letztlich zu weit geht - oder ob er nicht Recht hat und obendrein zu weit geht. Und ob er in der SPD bleiben soll. Bis in den Spätsommer 2011 hinein kann sich die Entscheidung des Partei-Schiedsgerichts ziehen, ob der Jurist der SPD schadet oder sie ihn auszuhalten hat. Sarrazin wiederum steht es frei, gegen einen Rauswurf vor einem Zivilgericht zu klagen. Am 4. September wird in Berlin ein neuer Landtag gewählt - und der Fall Sarrazin zuvor kühl über dem ganzen SPD-Wahlkampf lasten?

Sein Ortsverein, der hier Abteilung Berlin-Westend heißt, unterstützt das Parteiausschlussverfahren gegen sein Mitglied Sarrazin. Ohne zuvor eine Versammlung dazu einzuberufen, klagt Sarrazins Ehefrau Ursula, die in dieser Bar an diesem Abend noch eine Rolle spielen wird - weil Sarrazin seiner Abteilung zuvor auch nicht seine umstrittenen Thesen vorgestellt oder sich an der innerparteilichen Integrationsdebatte beteiligt hat, klagt deren Vorsitzender Robert Drewnicki. Mehr als 28 Mitglieder lockt das Thema trotzdem nicht hierher.

Zweimal ist Thilo Sarrazin in den letzten Jahren zu Abteilungstreffen aufgetaucht. Er hielt Vorträge. Einladungen zu ordentlichen Versammlungen folgt er nicht. "Er hat auch diesmal eine bekommen wie alle anderen auch", sagt Drewnicki. "Niemand hat ihm ein Gesprächsangebot gemacht. Es ist ein allgemeiner, respektloser Aufstand gegen meinen Mann zu Gange, der seit mehr als 30 Jahren in der SPD ist", sagt Ursula Sarrazin. Sie verliest einen Brief ihres Mannes an die Genossen. Das Phantom von Westend schreibt: Noch vor Erscheinen des Buches sei er aufgefordert worden, die SPD zu verlassen. Wie der Vorsitzende überhaupt Vorwürfe erheben könne, ohne das Buch gelesen zu haben, zumal die Lektüre der 403 Seiten mindestens drei Tage dauere, sofern der Leser sich mit nichts anderem beschäftige? Und er werde nicht aus der SPD austreten; freundliche Grüße, Thilo Sarrazin.

Das soll's gewesen sein, und ist es freilich nicht, denn Robert Drewnicki hat Sarrazins Buch tatsächlich vorzeitig bekommen und nicht nur gelesen, sondern durchgeackert, was die unzähligen Merkzettel bezeugen, die der Sohn polnischer Einwanderer an fast jede Seite klebte. Andere Abteilungsmitglieder wiederum glauben ausreichend Argumente aus Talkshows und Artikeln über das Buch aufgeschnappt zu haben, um mitreden zu können.

Ursula Sarrazin liefert sich ein verbales Dauerfeuer

"Berliner Sozialdemokraten sind auch nur normale Menschen" sagt Drewnicki nüchtern: und ergo wie der Rest der Gesellschaft zerstritten über den Wahrheitsgehalt des Buches - und darüber, ob sich Sarrazin mit seinen Thesen vom "Prinzip der solidarischen Mehrheit" in der ältesten parlamentarisch vertretene Partei Deutschlands verabschiede. "Es geht um unveränderliche Werte, die Sarrazin auf dem Altar von Populismus und Popularität opfert", sagt Drewnicki. Seit er 16 ist, ist der 48-Jährige in der SPD. Ein Linker, sagt er stolz. Einer, der davon profitiert, dass die SPD Kindern aus Nichtakademiker-Familien die Tür zu Gymnasien und Universitäten öffnete. "Einer, den Sarrazin heute nicht fördern würde."

Doch es ist kein rein persönlicher Showdown zwischen Ursula Sarrazin und dem lokalen SPD-Chef mit Migrationshintergrund. Zwar führt die Grundschullehrerin den Rundumschlag ihres Mannes fort ("Keiner, der gut verdient, bekommt Kinder" - "Jeder, der mit Menschen umgeht weiß, dass auch Intelligenz vererbt wird" - "Die Unterschicht und Arbeitslose haben mehr Kinder als die Mittelschicht"). Energisch auch wehrt sie die lautstarken Einwürfe "So ein biologistischer Quatsch!" mit dem Hinweis ab "Ihr müsst schon Bücher lesen, die das belegen. Mein Mann hat stapelweise Bücher gelesen."

Aber da sind auch die Genossin Martina und Genosse Ralf, die Thilo Sarrazin beipflichten - aus unterschiedlichen Motiven: Sie, die in den 70er Jahren aus der DDR nach Westberlin geflohen ist unterstützt den rebellischen Autoren, "weil die Mittelschicht zu wenig Kinder kriegt und die Wirtschaft leidet, die unter Jugendlichen aus Migrations- und Unterschichtenfamilien kaum noch qualifizierte Azubis findet". Ralf verteidigt ihn, weil er die Meinungsfreiheit unterdrückt sieht und wähnt, "die SPD hat nun endlich etwas, weshalb sie Sarrazin aufhängen kann. Wollt Ihr die formierte Gesellschaft, in der niemand Unbequemes denken darf?" Mit vorwurfsvoll aufgerissenen Augen schaut er in die Runde und kündet von seinem eigenen Mut zur Tat: "Ich habe in einer Email an den Bundesvorstand gefragt, wann die SPD anfängt, Bücher zu verbrennen." Nach einer etwas theatralischen Pause, schiebt er nach: "Keine Antwort."

Ursula Sarrazin liefert sich ein verbales Dauerfeuer

Robert Drewnicki kann das schwer ertragen - Parallelen zur Bücherverbrennung der Nationalsozialisten gegen jüdische und politisch anders denkende Autoren jagen seinen Puls hoch. "Sozialdemokraten sind für die Meinungsfreiheit ins KZ gegangen", poltert der Lokalchef stimmverzerrt. Minuten später verliert der Politologe annähernd die Fassung, als eine Geschäftsstellen-Mitarbeiterin sichtlich mitgenommen aus Zuschriften zitiert, "die ihr wegen des rassistischen Menschenbildes Angst machen". Es entsetzt ihn, "wie viele Genossen den Boden unserer Partei und des Grundgesetzes verlassen". Auch wer noch so enorme Defizite benennen wolle, müsse diese Grundwerte einhalten. "Leute", ruft er flehentlich, "schaut auf die Geschichte dieser Partei."

Frank fängt die Gegenwart wieder ein. Er ist Polizist in jenem Bezirk Neukölln, in dem 40 Prozent der Einwohner zumeist aus der Türkei und Osteuropa zugewandert sind. Im ruhigen Ton sagt er: "Im Umgang mit den Migranten dort habe ich nie gedacht, dass deren Gene schlechter sind als unsere. Ich habe immer nur gedacht: Was macht der Senat für eine Scheißpolitik?" Frank findet es "einfach ekelig, was Sarrazin im Namen der SPD an Genetik-Kram sagt". Auch Matthias kann es "schlicht nicht fassen, dass ein Sozialdemokrat danach fragt, was ein Menschenleben wert ist. "Dass einer von uns sagt: Wer arm oder dumm geboren ist, bleibt arm und dumm."

Ursula Sarrazin liefert sich ein verbales Dauerfeuer mit den beiden, schleudert ihnen wiederholt entgegen: "Habt ihr das Buch gelesen?" Selbstverständlich fordere ihr Mann auch, Schwache zu fördern. Nur nicht mit jenen 50.000 Euro, die Akademikerfrauen - "die Klugen"- erhalten sollen, die jung Mütter würden. "Dieses Geld soll den Frauen helfen, ihren Einkommensverlust aufzuwiegen, den sie durch die Mutterschaft erleiden." Allerdings sollen es "nur selektiv jene Gruppen" erhalten, schreibt ihr Mann in Kapitel acht seines Buches, "bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist". Selektion! Elitenbiologie! halten die beiden Männer den Sarrazins entgegen.

So will kein Frieden werden in der Bar, in der SPD Berlin-Westend. Das Rot wirkt auch zur Nacht noch warm. Nur das Chrom glänzt kühl.