Kolonialismus, Globalisierung und Demenz werden als Erinnerungsfetzen vorbeigespült: Szene aus „Paradies fluten“ Foto: Veranstalter

Eigentlich müsste das Futur II, die vollendete Zukunft, die Sprache dieses Stücks sein: „Paradies fluten“ blickt im Theater Rampe aus einer Zeit, in der der Kapitalismus ins Museum gewandert ist, zurück auf menschliche Bemühungen. Die Choreografin Nicki Listza und der Rampe-Regisseurin Marie Bues fischen zum Auftakt ihrer Kooperation intensive Theatermomente aus Thomas Köcks Endzeit-Textflut.

Stuttgart - Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne? Pustekuchen! Marie Bues und Nicki Liszta stimmen gleich die drängenden Töne an, die man von beiden gewohnt ist. Zum Start ihrer Kooperation haben die Intendantin der Rampe und die Stuttgarter Choreografin mit Thomas Köcks Endstück „Paradies Fluten“ eine Vorlage gefunden, die 13 Tänzern, Schauspielern und Musikern den nötigen Raum lässt, um aus dieser „verirrten Sinfonie“, so der Untertitel, eine atmosphärisch dichte Performance zu machen.

Als am Samstag in der Rampe zum ersten Mal das Paradies geflutet wird, blasen drei Musiker an Schlagzeug, Bass und E-Gitarre massive Klangwellen über die Bühne, die die zehn Akteure packen und in gewaltigen Wirbeln mitreißen. 100 Minuten später, nachdem Tänzer und Schauspieler neue Facetten an sich entdecken durften, darf das Publikum zum Schlussapplaus selbst auf die Bühne. Das Involviertsein gehört zu diesem Stück, schließlich handelt es von Risiken und Nebenwirkungen des Kapitalismus, und der hat uns alle befallen. Geheilt ist am Ende keiner, dafür bekommen die Akteure die Standing Ovations, die sie verdient haben.

Im Geflecht einer Familie ist Platz für Systemkritik

Kolonialismus, Globalisierung und Demenz sind die Themen, die eine große Flut als Erinnerungsfetzen vorbeispült. Wie bei einem Hörspiel mischt Köck Regieanweisungen und Sprechtext ohne Punkt und Komma zu einem gedankenprallen Ganzen, in dem Rollen verwischen: Ein Architekt kehrt wieder und rutscht wie ein Pinguin durch den brasilianischen Sumpf, dem er ein Opernhaus abringt. Daneben ist im Geflecht einer Familie Platz für Systemkritik: Die Selbstverwirklichungsträume des Vaters, der eine eigene Kfz-Werkstatt braucht, frusten die Mutter; die Tochter hat Existenzängste, da ihre Karriere als Tänzerin wie in der Kunst üblich querfinanziert ist.

„Paradies fluten“ ist eine Art szenische Lesung. In der Rampe gelingen auch dann intensive Momente, wenn Köcks kritische Endzeitanmerkungen Schleifen drehen. Eigentlich müsste das Futur II die Sprache dieses Stücks sein, dem ersten Teil einer Klima-Trilogie. Sein Prolog spielt im Foyer der Rampe, zu diesem Anlass als „Museum des Kapitalismus“ gestaltet. Reifen baumeln von einem Galgen, ein Autowrack harrt dem Untergang der Zeit, die es hervorgebracht hat. Fast zynisch beginnt der Abend, wenn es ums Verglühen der Sonne geht, das alles menschliche Bemühen in Lava verwandelt haben wird. Bis dahin ist noch Zeit für gutes Theater. Also nicht verpassen.