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Jeder zweite Deutsche beendet sein Leben im Krankenhaus. Trotzdem muss die Palliativmedizin, die körperliches und seelisches Leiden der Sterbenden lindert, um jeden Euro kämpfen.

Stuttgart - Die Frau im Krankenhausbett lacht spontan, mitten im Gespräch. Der Tod eilt ihr entgegen – doch er schreckt sie nicht. „Ich weiß, dass ich sterben werde“, sagt Irmgard Schmidt-Sommer. „Trotzdem muss ich nicht immer traurig sein. Hier wird auch mal gelacht.“ Ein solches Lachen kann Wunder wirken: Die Schläuche, die zum Körper der 86-Jährigen führen, die Medizingeräte am Bett – alles weniger wichtig, wenn sie lacht. Der Besucher sieht plötzlich den Menschen vor sich, nicht die Patientin.

Frau Schmidt-Sommer ist an Krebs erkrankt; sie hat mehrere schwere Operationen hinter sich. Heilung gibt es keine mehr. Darum liegt sie auf der Palliativstation im Stuttgarter Marienhospital. „Ich bin sehr erleichtert, dass ich meine letzte Wegstrecke von hier aus antrete“, sagt sie. „Hier gibt es nicht nur die nötige Medizin gegen die Schmerzen, sondern auch Zuwendung, gute Gespräche, eine positive Atmosphäre. Hier fühle ich mich geborgen. “

„Unsere Patienten haben den Tod vor Augen“, sagt Oberärztin Dr. Elisabeth Bürger. Auf der Palliativstation steht nicht Heilung im Mittelpunkt, sondern die Linderung von körperlichem und seelischem Leiden und die Bewältigung sozialer Probleme. „Die Menschen wollen ohne Schmerzen und Ängste ihre Situation aufarbeiten. Dazu geben wir ihnen Sicherheit in der Abschiedsphase“, erklärt Bürger. Das Wohl des Patienten ist ihr ärztlicher Auftrag. Doch zunehmend sieht sich die Gründerin der Palliativstation mit einem zweiten, ganz anderen Auftrag konfrontiert: Bürger soll sparen.

„Der Kostendruck der Krankenkassen beeinflusst bereits unser Handeln und Behandeln in Richtung einfacherer, günstigerer Methoden“, kritisiert Dr. Bürger. Diesem Druck stemmt sie sich entgegen. Das kostet Zeit, Kraft, Nerven. Das Management der Vinzenz von Paul Kliniken gGmbH, dem Träger des katholischen Marienhospitals, steht hinter seiner Ärztin. Die Klinik trägt es mit, dass die mit 20 Betten größte Palliativstation in Stuttgart rote Zahlen schreibt. Einen Blankoscheck für das Budget der Station gibt es trotzdem nicht.

2012 haben Bürger und ihr Team 410 Patienten versorgt. Deren durchschnittliche Verweildauer war 15,2 Tage – was deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt. Solche Abweichungen machen den Medizinischen Dienst der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen (MDK), bei denen 90 Prozent der Deutschen versichert sind, hellhörig. „Wir erhalten massiven Druck wegen unserer Liegezeiten vom MDK“, sagt die Oberärztin. Die Liegezeit ist das Maß der Dinge bei der Kostenerstattung der Kassen.

Im Streitfall verlangt der MDK eine akribische Dokumentation und Begründung der längeren Behandlungsdauer. Doch viele Faktoren entzögen sich ihrer Einflussmöglichkeit, ärgert sich Bürger. „Viele Patienten auf der Station sind zu krank fürs Pflegeheim oder für zu Hause, aber zu wenig krank für ein Hospiz“, sagt sie. Oft sei auch schlicht kein Platz im Hospiz frei. „Und was soll ich tun, wenn sich das Sterben in der Klinik über Wochen hinzieht?“

Ein Umfrage unserer Zeitung ergibt, dass alle vier großen Kliniken in Stuttgart mit ihrer Palliativabteilung unter ähnlichem finanziellen Druck stehen. Das Marienhospital rechnet mit Tagessätzen ab; während das Robert-Bosch-Krankenhaus, das Diakonie Klinikum und das Klinikum Stuttgart wie die allermeisten Kliniken nach Wunsch des Gesetzgebers über Fallpauschalen ansetzen, bei denen die Kassen je nach Diagnose Festbeträge zahlen. „Beide Abrechnungsformen sind bei weitem nicht kostendeckend“, klagt Ulrike Fischer, Sprecherin der Klinikums Stuttgart. „Eine Palliativstation kann nicht kostendeckend arbeiten“, sagt Frank Weberheinz, Sprecher des Diakonieklinikums.

„Die Finanzierung über Fallpauschalen trägt mit ihren inneren Regelmechanismen dazu bei, dass für die Palliativmedizin im Laufe der Zeit weniger Geld zur Verfügung steht als im Vergleich für andere, teurere Behandlungsmethoden“, verdeutlicht Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). „Das ,Dilemma’ besteht insofern darin, dass die Palliativmedizin nicht durch überflüssige Therapien und Diagnostik teurer werden kann. Das ist eine Abwärtsspirale.“

„Bei uns definieren Symptome den Aufwand der Behandlung, nicht die Diagnose“, erläutert Dr. Marion Daun, Oberärztin der Palliativstation am Klinikum Stuttgart. Jeder Patient leidet anders. Jeder hat sein Umfeld dabei. Manchmal nimmt die psychosoziale Betreuung der Angehörigen mehr Raum ein als die des Sterbenden. Das diagnosebasierte System der Fallpauschalen könne der „Komplexität der Patienten“ gar nicht gerecht werden, kritisiert Daun.

Die Kassen sehen das anders. Die stationäre Palliativversorgung sei „gut finanziert“, teilt der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) unserer Zeitung mit. Das Bundesgesundheitsministerium hatte im Sommer – noch unter FDP-Führung – dem Bundestag dargelegt, dass die Palliativmedizin eine „aufwandsgerechte Vergütung“ erhalte und kein Patient wegen der Fallpauschalen Nachteile fürchten müsse. Statistiken der DGP, die unserer Zeitung vorliegen, lassen daran Zweifel aufkommen: Sie zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Zeitplan, nach dem die Kassen zahlen, und dem Zeitpunkt, zu dem Patienten die Palliativstation verlassen. Dass es im System „Anreize zur Verweildauerverkürzung“ gibt, wird auch durch die Umfrage unserer Zeitung bestätigt.

Der Sterbeprozess im Krankenhaus dürfe „nicht rein ökonomischen Zwängen unterliegen“ und sich an festen Zeiten ausrichten müssen, warnt Bernadette Rümmelin, Geschäftsführerin des Katholischen Krankenhausverbands Deutschland. Die Ethikkommission der Bundesärztekammer fordert dazu auf, im Medizinbetrieb generell zwischen der „moralisch gebotenen Wirtschaftlichkeit“ und einer „aus ethischer Perspektive fragwürdigen Ökonomisierung“ zu trennen. Betriebswirtschaftliche Ziele dürften nicht ärztliches Handeln bestimmen; der hilfsbedürftige Kranke sei kein zahlender Kunde, betont die Ethikkommission.

Wenn eine Klinik keine spezielle Palliativstation vorweisen kann, muss sie 2014 mit weniger Geld auskommen als bisher. Ein Beispiel: Für eine zweiwöchige Palliativbehandlung eines Patienten zahlen die Kassen – zusätzlich zu den Behandlungskosten der eigentlichen, tödlichen Erkrankung – künftig 1621,46 Euro. Das sind gut 500 Euro weniger als im Jahr 2011. Hat die Klinik eine eigene Palliativstation mit mindestens fünf Betten und einer exakt definierten, anspruchsvollen Betreuung durch Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten, kann sie für die zwei Wochen 1906,10 Euro abrechnen. „Mit dem Geld, das die Kassen ab 2014 zahlen, kommt man wirtschaftlich mit Müh’ und Not zurecht“, sagt DGP-Mann Melching.

2011 starben in Deutschland 850 000 Menschen; die Hälfte im Krankenhaus. Aber nur ein Bruchteil erlebte die letzten Tage auf einer Palliativstation. Experten gehen davon aus, dass kaum die Hälfte der Patienten, die dafür in Frage kommt, tatsächlich palliativmedizinisch begleitet wird. „Am besten wäre es, wenn jeder Arzt Sterbende professionell betreuen könnte“, sagt Dr. Daun. Das Denken, dass der Arzt versagt, wenn der Patient stirbt, ist ihrer Ansicht nach überholt. Leiden und Sterben könne man nicht aus dem Leben verdrängen, erst recht nicht in der ständig älter werdenden Gesellschaft.

Die Palliativmedizin genießt in der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen. Immer mehr Kliniken richten Abteilungen für todkranke Patienten ein; zum Teil auch aus Imagegründen. 1996 gab es 28 Palliativstationen an deutschen Krankenhäusern; 2012 waren es schon 257 Stationen. Und der Ausbau geht weiter. Doch unter wirtschaftlichen Prämissen müsse man „ständig um den Platz im Gesundheitswesen kämpfen“, kritisiert die Palliativ-Gesellschaft. Schlimmstenfalls drohen Mogelpackungen, warnt ein Palliativ-Arzt: „Ein paar Betten am Ende des Flurs und ein Schild ,Palliativ’ an der Wand? Das macht noch kein würdiges Sterben.“