Die Richter der 9. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart wollen heute unter dem Vorsitz von Joachim Holzhausen (Mitte) im sogenannten Osmanen-Verfahren die Urteile sprechen. Foto: Lichtgut

Verteidiger attackieren Staatsanwalt, Ermittler, Journalisten den Grünen-Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir. Urteil soll am heutigen Donnerstag gesprochen werden.

Stuttgart - In ihren Plädoyers haben die Verteidiger früherer Anführer des Osmanen Germania Boxclubs Staatsanwalt, Ermittlungsbehörden, Medien und den Grünen-Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir angegriffen. Die Vorwürfe: Die Anklagen gegen den Ex-Welt-Chef Mehmet Bagci, seinen Stellvertreter Selcuk Sahin und den früheren Stuttgarter Osmanen-Statthalter Levent Uzundal seien „konstruiert“, die Ermittlungen fehlerhaft, die Berichterstattung aggressiv gewesen. Dadurch habe von Beginn im vergangenen März an immenser Druck auf dem Verfahren vor dem Landgericht Stuttgart und besonders den Richtern der 9. Strafkammer gelegen. „Sollte hier Einfluss auf die Meinungsbildung genommen werden?“, fragte Uzundals Anwalt Markus Bessler rhetorisch.

Er kritisierte, dass die Namen der Hauptangeklagten offen in Berichten genannt wurden. Dadurch sei vor allem der Familie seines Mandanten Leid zugefügt worden, was zu berücksichtigen sei, wenn die Richter über die Höhe der Strafe entscheiden. Zudem wies er auf „eigenartige Dinge“ hin, die „im Prozess passiert“ sind: der Besuch Cem Özdemirs Mitte Dezember, der „nach 20 Minuten im Gerichtssaal wieder verschwand“. Tatsächlich war Özdemir gut anderthalb Stunden lang im Gerichtssaal gewesen.

Junge Frau habe gewusst, mit wem sie sich einließ

Für Uzundal spreche, so Bessler und sein Kollege Hans Steffan, dass Uzundal in vielen eskalierenden Situationen versuchte, die Beteiligten zu mäßigen. So stoppte der 35-Jährige eine gewalttätige Bestrafung eines Aussteigers in Altbach (Landkreis Esslingen). Oder er hielt einen Kumpanen zurück, als der im hessischen Wetzlar bei einer albanischen Familie vermeintliche Mietschulden eintreiben wollte. In einem Telefonat fragten sich Bagci und Sahin, ob Uzundal zu weich sei.

Ihm wird auch vorgeworfen, eine Frau zur Prostitution verleitet zu haben. Gerade das will Bessler nicht gelten lassen. Die junge Frau habe gewusst, dass „sie sich nicht mit einem Vertreter der Heilsarmee einlässt. Also warum ist das Geschrei so groß?“ Uzundal war – das zeigte die Beweisaufnahme – nicht unmittelbar an der blutigen Bestrafung eines Osmanen-Anführers in Herrenberg beteiligt; das war ihm vorgeworfen worden. Das Verteidiger-Duo forderte deshalb eine „milde Freiheitsstrafe“.

Eigentliche Täter setzte sich in die Türkei ab

Die soll es nach dem Willen seiner beiden Advokaten Julian Heiss und Klaus Rüther auch für Selcuk Sahin geben. Auf die Herrenberger Aktion habe ihr Mandant „keinen beweisbaren Einfluss genommen“. Die ihn belastenden Zeugen, eine frühere Geliebte und das Opfer, seien unglaubwürdig. Der eigentliche Täter, Mustafa Kilinc, hat sich in die Türkei abgesetzt. Als er mit zugesichertem freien Geleit im Dezember vor den Richtern erschien, verweigerte er die Aussage.

Für Wetzlar habe Sahin Sicherheitskräfte vermittelt, die ohne die Kutte der Osmanen aufgetreten seien. „Immer wieder einmal waren Mitglieder der Osmanen in Diskotheken oder bei politischen Veranstaltungen für die Sicherheit zuständig – und wurden dafür bezahlt“, sagte Rüther. Allenfalls zwei Jahre solle Sahin ins Gefängnis. Die vom Staatsanwalt geforderte Strafe von fünf Jahren und sechs Monaten sei zu hoch. „Mir hat einmal jemand gesagt, dafür kannst du jemanden umbringen im Affekt“, sagte Rüther.

„Seit 577 Tagen in Isolationshaft“

Wie er wies auch Heiss darauf hin, sein Mandant befinde sich seit „577 Tagen in Isolationshaft“, also einer Haft, durch die ein Häftling mit gezielten Maßnahmen physisch und psychisch zugrunde gerichtet wird. Kritiker sprechen deswegen auch von Vernichtungshaft.

Heiss’ Kollege Stefan Striefler forderte, Mehmet Bagci freizusprechen. Ihm wird vorgeworfen, er habe versucht, das Herrenberger Opfer, Celal Sakarya, zu einer falschen, Sahin entlastenden Zeugenaussage anzustiften. Dies habe die Beweisaufnahme nicht ergeben.

Ein angebliches Verfahren

Rüther hatte sein Plädoyer mit einer Lüge begonnen: Er behauptete, ein „Verfahren“ gegen unsere Zeitung geführt zu haben, um zu verhindern, „dass dort die Anschrift unseres Mandanten dauernd genannt wird“. Richtig ist, dass im Dezember 2017 in einem Artikel einmal der hessische Wohnort Sahins genannt wurde. Ein Kanzleikollege Rüthers monierte dies. Unser Justiziar wies das Begehren zurück – auch weil Bagci, Sahin und Uzundal vor ihren Verhaftungen die Öffentlichkeit mit Filmen, Interviews und Fotos mit führenden Mitglieder des Erdogan-Lobbyvereins Union der Europäisch-Türkischen Demokraten suchten. Aus besonderer Rücksicht auf die Familie Sahin jedoch verzichtete unsere Zeitung „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ darauf, den Ort weiterhin zu nennen und entfernte ihn aus dem Artikel.

An diesem Donnerstag soll in Stammheim das Urteil gesprochen werden.