Vor sechs Jahren hat Sean Rainbird als Direktor der Staatsgalerie Stuttgart ein Schlemmer-Panorama für 2014 angekündigt – seine Nachfolgerin Christiane Lange kann es jetzt präsentieren. Es ist der Auftakt einer internationalen Neubewertung des Werks von Oskar Schlemmer.
Stuttgart - Was für ein Auftakt! Verhalten zwar, aber doch entschieden gehen, nein, schreiten junge Frauen und Männer eine sich nach rechts wendende Treppe hinauf, nein, empor. 1932 schließt Oskar Schlemmer nach zahllosen Studien das Ölbild „Bauhaustreppe“ ab. Eine Hommage an den seinerzeit ikonenhaften Bauhaus-Bau in Dessau und zugleich scheinbar Realität gewordene Vision eines neuen umfassenden Lebensverständnisses.
Schlemmer aber gerät mit seiner „Bauhaustreppe“ in den Strudel einer sehr anderen Realität. Am 30. Januar 1933 ernennt Deutschlands Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Und dass der „Führer“ der nationalsozialistischen Mehrheitsfraktion im Berliner Reichstag im neuen Amt keineswegs rechtsstaatliche Verhältnisse gelten lassen würde, bekommen mit als Erste die Künstler zu spüren. Schlemmer wird unmittelbar und fristlos aus seinem ein Jahr zuvor in Berlin angetretenen Lehramt entlassen. Und Trupps der später selbst den Machtkämpfen der neuen deutschen Herren zum Opfer gefallenen Sturmabteilung (SA) erzwingen im März 1933 die Schließung einer Ausstellung im Württembergischen Kunstverein Stuttgart. Einer deren Höhepunkte: Schlemmers „Bauhaustreppe“.
Der spätere Direktor des Museums of Modern Art in New York lässt das Bild kaufen – es ist der letzte internationale Erfolg Oskar Schlemmers.
Ina Conzen, die das Ausstellungsprojekt „Oskar Schlemmer – Visionen einer neuen Welt“ erarbeitet hat, vertraut der „Bauhaustreppe“ als Mittelpunkt einer Ausstellung in der Ausstellung. Zentrale Bilder Schlemmers bilden den Auftakt, begründen das künstlerische Gewicht. Lohnenswert allein schon der Auftritt des „Tänzers“ von 1923. Wie zeitgleich in seinen (meist verschollenen) Drahtskulpturen vertraut der 1888 in Stuttgart geborene Schlemmer hier einer bloßen Umrissfiguration, die Körper, Leinwand und Grund ununterscheidbar machen. Der „Tänzermensch“, den Schlemmer als Lehrer am Bauhaus – zunächst in Weimar, dann in Dessau – von 1921 auf die Bühne zu bringen versucht, ist bildnerische Realität.
Und mehr noch gar als die bis in die Rundhalsausschnitte der „Bauhaustreppe“-Figuren zeitbezogene Moderne, steht dieser neun Jahre zuvor entstandene „Tänzer“ für Schlemmers Streben nach einem überzeitlichen Wesen. Wie aber entwickelt sich dieses? Vorsichtig. Auf klassischen Wegen in der Malerei – über die Landschaft, über die Architektur, über das Porträt. Und ganz als Künstler seiner von Kunststürmen erschütterten Zeit experimentierfreudig und in schnellen Sprüngen in der Plastik und im Relief. Die Schau zeigt all dies nach dem summierenden Auftakt für die Malerei in chronologischer Abfolge. „Klassisch kunsthistorisch“, wie Ina Conzen selbst sagt. Für Einschnitte sorgen Höhepunkte wie die die europäische Moderne spiegelnde „Mythische Figur“ von 1923 und zuvor schon der auf das Zusammenspiel gegensätzlicher Materialien bis hin zur Metallfolie bauende „Plan mit Figuren“ von 1919.
Zu jener Zeit ist Oskar Schlemmer offiziell noch Meisterschüler an der Stuttgarter Kunstakademie. Wieder, wäre zutreffender, reißt doch der Erste Weltkrieg den Künstler aus seiner Entwicklung. Die Verbindungen aber halten über das menschenverachtende Töten hinweg – die Freundschaften zu Otto Meyer-Amden und Willi Baumeister in Stuttgart ebenso wie die Verbindungen in das europäische Kunstzentrum Paris.
Ina Conzens Chronologie-Kurs wird vor allem im Kleinen zum Genuss. Aquarelle wie „Zwei blauschwarze Figuren“ sind allein den Besuch der Schau wert. Und doch bleibt ein ungutes Gefühl. Die Entscheidung, den Maler Oskar Schlemmer im Wechselausstellungssaal des Stirlingbaus zu zeigen, die Themen Bühnenbild und Wandmalerei im Obergeschoss, mag die Übersichtlichkeit fördern. Entspricht sie aber auch dem Künstler Schlemmer? Im Obergeschoss wird diese Frage dringlicher. Dem „Tänzerwesen“ auf der Spur verschreibt sich Oskar Schlemmer ganz und gar der Bühnenkunst. Der Tänzer Schlemmer fügt sich dabei in die jüngste Choreografiegeschichte ein – und geht doch einen Schritt weiter.
Der Maler eines neuen, ebenso überzeitlichen wie transnationalen Menschenbilds reduziert die Bewegung, hält inne, wiederholt. Schlemmer legt Linien, die letztlich zum Theater Becketts führen, zu Bruce Naumans Werken wie „Clown Torture“ und zu den „Werksätzen“ und „Handlungsskulpturen“ von Franz Erhard Walther. Diese Linien nimmt diese Schau nicht auf – ebenso wenig wie jene aus Schlemmers bildnerischem „Folkwang-Zyklus“ zur mit Namen wie Francesco Clemente und Enzo Cucchi verbundenen italienischen Malerei der frühen 1980er Jahre.
Diese Linien aufzunehmen ist aber auch nun erst möglich – nach dieser Ausstellung, nach diesem Neubeginn in der Schlemmer-Werkbetrachtung. Erstmals seit 1977 und dem von Karin von Maur ebenfalls für die Staatsgalerie realisierten Überblick ist es ja überhaupt möglich, Schlemmer-Werke aus aller Welt für eine Ausstellung zusammenzuführen. 70 Jahre nach Schlemmers Tod 1943 in Baden-Baden sind für alle Arbeiten in öffentlichem Besitz und für alle Werke aus Privatsammlungen außerhalb des Schlemmer-Erbes die Präsentations- und Urheberrechte frei.
Das Erbe aber bleibt umkämpft – zwischen Raman Schlemmer, Sohn der Schlemmer-Tochter Ute-Jaina, und Janine Schlemmer, Tochter der ebenfalls verstorbenen Schlemmer-Tochter Karin. Und so ist der Triumph der Staatsgalerie, mit „Visionen einer neuen Welt“ die Rückkehr Oskar Schlemmers in das internationale Kunst-Rampenlicht präsentieren und feiern zu können, nur die eine Seite einer Ausstellung, die feierlich endet. Durch die dem „Folkwang-Zyklus“ vorbehaltenen Säle geht der Blick weit auf ein 1940 für ein Stuttgarter Privathaus geschaffenes Wandbild. Nach Jahren der Unsicherheit, der Suche und der eigenen Widersprüche proklamiert Oskar Schlemmer hier noch einmal sein Programm eines rein der Kunst verschriebenen Ideals.
In der Realität sieht man eine wichtige, zuweilen auch betörende Ausstellung – und wohl doch nur den halben Schlemmer. 127 Arbeiten aus dem „ungeteilten Erbe“ Schlemmers in einem Depot des Kölner Auktionshauses Lempertz waren für diese Schau ebenso wenig greifbar wie der unabsehbar große Werkblock, den Raman Schlemmer in der Schweiz lagern soll. Beide aber – Janine wie Raman Schlemmer – haben diese Ausstellung vorab gesehen. Beide haben sicher die Chancen erkannt – insbesondere jene, die Wirkungsgeschichte Schlemmers zu einem in die Gegenwart führenden Thema zu machen. Hierzu ließen sich nun die Fäden knüpfen – dank der Staatsgalerie Stuttgart und einer Ausstellung, die mit den Figurinen des „Triadischen Balletts“ ein Kernstück der eigenen Sammlung bietet.