Die rumänische Turnerin Nadia Comaneci Foto: picture alliance

Vor 40 Jahren turnte Nadia Comaneci die perfekte Zehn. Aber die wehrte sich. Wie bei Armin Hary. Schuld ist Pelé. Eine Kolumne von Oskar Beck.

Stuttgart - Sein vierzigjähriges Jubiläum hat diesen Montag der Moment gefeiert, in dem Nadia Comaneci aufstieg in die von einem großen US-Magazin verwaltete Göttergalerie der „100 wichtigsten Frauen des 20. Jahrhunderts“. Die 54-jährige Amerikanerin, die alle Welt als 14-jährige Rumänin kennt, hüpfte an jenem 18. Juli 1976 in Montreal glücklich vom Stufenbarren – und traute beim Aufleuchten der Wertung ihren Augen nicht.

Da stand: „1,0“.

Eine glatte Eins ist perfekt in der Schule. Aber im Turnen bei den Olympischen Spielen ist eine glatte Eins der perfekte Grund, Rotz und Wasser zu heulen, aus der Halle zu rennen und auf die Peitschenhiebe des Trainers zu warten. Die kleine Nadia war völlig verwirrt. Eines der rumänischen Mädchen sagte: „Sie meinen eine Zehn, aber der Computer kriegt es nicht hin.“ Dann, endlich, wurde der grässliche Irrtum korrigiert – und die Sportgeschichte hatte ihren magischen Moment.

„10,0!“ rief der Lautsprecher. Die erste perfekte Zehn. Ein Wunderkind hatte das Unmögliche vollbracht. Jahre danach traf die Göttliche den Chef der Firma, welche die Anzeigetafel damals gebaut hatte, und er verriet ihr: „Zwei Monate vor Montreal hatten wir dem Turnverband Modelle mit zwei Stellen vor dem Komma angeboten. Aber alle winkten ab: Nicht nötig, kein Mensch bringt es fertig, eine 10 zu turnen.“

Denn der Widerstand der „10“ war zäh. Wie eine Zicke hat diese Zahl sich geziert nach dem Motto: Mich kriegt nicht jeder. Die „10“ war Besseres gewohnt als eine kleine Rumänin, die „10“ war eine verwöhnte Diva – sie hatte bis dahin den Königen des Fußballs den Rücken verschönt.

Die „10“ gehörte Pelé. Der hatte diese Zahl hoffähig gemacht und geadelt, bei der WM 1958 in Schweden. Als 17jähriger Zauberknabe führte er die tollsten Nummern vor und machte die auf seinem Buckel weltberühmt – alle Mütter dieser Welt, darunter meine, mussten ihren Buben eine „10“ auf das Turnleibchen nähen.

Alle Buben wollten die „10“ auf ihrem Turnleibchen

Die Magie der „10“ war geboren. Fortan durfte diese Nummer nur tragen, wer wie Pelé das Ballstreicheln mit dem Spielwitz und die Genialität mit dem Wahnsinn verband, etwa Overath und Netzer. Später kamen Maradona oder Platini dazu, und auch bei Felix Magath war es noch okay. Aber eines Abends ging der dann in Stuttgart zu einem Konzert von Herbert Grönemeyer, schenkte dem Musiker ein Trikot mit der „10“ und sagte: „Das passt perfekt zu dir.“

Das sind diese Momente, in denen die „10“ zusammenzuckt und bockig wird, und die Rache der Diva kann grausam sein: Zinedine Zidane musste bei Real irgendwann plötzlich die „5“ tragen – also ein Trikot, das zu Zeiten unseres unvergessenen Ausputzers Willi Schulz noch als Knochenbrecher- und Holzfällerhemd verteufelt wurde.

Die „10“ muss sich wehren, denn sie wird immer wieder verwässert: In Hollywood gibt es den Film „10“ mit Bo Derek, der Heidelberger Melonenschnaps wird in 10,0-Liter-Kanistern verkauft, das Standardseil für Sportkletterer ist 10,0 Millimeter dick, Hannover 96 hat ein Testspiel gegen Ramlingen neulich 10:0 gewonnen, und beim Boxen wippen die Nummerngirls nach der neunten Runde auf hohen Absätzen mit den Pobacken, wedeln mit den Ohren, und was stemmen sie hoch? Eine „10“. Der Zauber der 10 leidet unter inflationären Tendenzen: Wenn Usain Bolt einmal nur 10,0 läuft, will das empörte Publikum das Eintrittsgeld zurück und fragt sich, ob er die Nacht zuvor mit drei Ludern verbracht hat.

Deshalb schlägt die „10“ gelegentlich zurück und statuiert ein Exempel, wie dieser Tage, als von den British Open im Golf über Martin Kaymer die Meldung kam: „Das verflixte zehnte Loch.“ Dieses Aufmucken hat damals auch Nadia Comaneci zu spüren bekommen.

Oder Armin Hary. „10,0“ heißt in dicken Lettern die Lebensgeschichte unseres deutschen Wunderläufers, man findet sie noch in antiquarischen Buchgeschäften. Als erster Mensch lief Hary die 100 Meter in blanken zehn Sekunden, aber er musste die Fabelzeit dreimal laufen, ehe die „10“ sich geschlagen gab.

Ein Zeit- und Augenzeuge ist Stefan Waggershausen, der Balladensänger vom Bodensee („Hallo Engel“). Er hat mir erzählt, wie er als Kerlchen in kurzen Hosen neben der Ziellinie kniete, als Hary im September 1958 (also kurz nach Pelé) bei einem Sportfest in Friedrichshafen die Schallmauer durchbrach. Die Stoppuhren verkündeten verrückte Zahlen: 9,9 - 9,9 - 10,0.

Ein Fall für die Geschichtsbücher

Weltrekord. Hary war ins Geschichtsbuch gerannt. „Eigentlich“, sagte später ein Kampfrichter, „hätten wir 9,9 Sekunden bekanntgeben müssen, aber wir haben uns nicht getraut.“ Die Zeit war so unfassbar, dass sie keiner glaubte. Und anderntags ergab eine Messung, dass die Laufbahn statt der erlaubten zehn ein Gefälle von elf Zentimetern hatte. Rekord abgelehnt.

Seinen zweiten und dritten Versuch, den Widerstand der „10“ zu knacken, unternahm Hary dann im Sommer 1960. „Auf die Plätze, fertig“, rief der Starter beim Meeting im Züricher Letzigrundstadion, und der „Blonde Blitz“ ließ sich wie immer hineinfallen in den Schuss. Hundert Meter später starrten sich die Zeitnehmer an: 10,0 – 10,0 – 9,9 – 9,8.

Aber gleich nahte der Spielverderber. „Frühstart“, monierte der Starter, „ich hätte das Feld zurückgeschossen, aber die Pistole hat versagt.“ Hary fluchte. Da wedelte ein Journalist mit dem Regelheft und machte ihn auf die Möglichkeit eines Wiederholungslaufs aufmerksam. Hary fand die verlangten zwei Mitläufer (die anderen waren schon weg) und alle schüttelten den Kopf: Will der coole Hund diese blanke, noch nie erreichte Zehn binnen einer halben Stunde gleich zweimal laufen?

Es war 20.15 Uhr am 21. Juni 1960, als Armin Hary dann das Zielband zur Ewigkeit zerriss: 10,0 – 10,0 – 10,1- 10,0. Das Kampfgericht beriet noch mal sieben Minuten, doch diesmal fand sich nichts mehr. Kein Rückenwind. Kein Gefälle. Irgendwann geht diese zähe Zahl in die Knie, jedenfalls vor den Großen: 10,0 – Hary.

10,0 – Comaneci.

Die nächste unüberwindliche Grenze, die Nadia Comaneci überschritt, war später die nach Ungarn, kurz vor der Dezember-Revolution 1989. Sie lebt seither in den USA, hat mit dem Olympiasieger Bart Connor einen Sohn und die rumänische Vergangenheit hinter sich gelassen – nur von der in Montreal wird sie immer wieder eingeholt, wie jetzt beim Jubiläum, und muss dann von der widerborstigen „10“ und jenem bizarren Tag berichten.

Nie wieder hatte Nadia Comaneci danach Ärger mit der Zehn. „Nach Montreal“, erzählt sie gelegentlich lachend, „hat die Firma vor den Wettkämpfen den Veranstalter immer gefragt, ob ich dabei bin – sie nahmen dann die größere Anzeigetafel.“