Wer Theater für elitär hält, sollte ins Alte Schauspielhaus gehen. Dort bewegt „Istanbul“ die Menschen. Beim „Ortstermin“ unserer Zeitung erfuhren unsere Leserinnen und Leser mehr über das Stück und seine Darsteller.
Klaus Gruber (Reinhold Weiser) braucht einen Job. Zuhause findet er nichts. Keine Chance. Also lässt er sich von der Türkei anwerben, die brauchen dort dringend Arbeitskräfte, junge, gesunde Männer. Also verlässt er Untertürkheim, geht nach Istanbul. Lebt dort in einem „besseren Schuhkarton“, ist verloren und einsam, „ohne Sprache zu sein, ist wie leben ohne zu atmen“, sagt er.
Die Realität steht Kopf
Ein simpler Kniff. Die Realität steht Kopf. Dieser „Perspektivwechsel“, wie Nikolai B. Forstbauer, Redakteur unserer Zeitung es nennt, sorgt für Aha-Effekte. „Perspektivwechsel tun uns immer gut“, sagt Schauspielerin Selda Falke, in „Istanbul“ als Ela zu erleben. Es ist ganz offensichtlich einer, auf den die Menschen gewartet haben. Intendant Axel Preuß spricht von einer „Welle der Begeisterung“. Es werde im Saal getanzt, mitgesungen zur Musik von Sezen Aksu, einem Superstar aus der Türkei.
„Sezen Aksu kennt in der Türkei wirklich jeder“, sagt Kerim Arpad, Geschäftsführer des Deutsch-Türkischen Forums. 190 Nationen, 120 gesprochene Sprachen, 40 Prozent aller Stuttgarter haben einen Migrationshintergrund, wie das sperrig heißt, so ist diese Stadt – eine internationale Stadt. Dies spiegelt sich nicht unbedingt im Kultur-Angebot wider. 140 000 Türkisch-Stämmige gebe es in der Region Stuttgart, sagt Arpad, und offenbar haben sie auf „Istanbul“ gewartet. „Wir haben von so vielen Leuten Rückmeldung bekommen“, sagt Arpad, „das Interesse ist groß.“ Ganz ganz viele Menschen würden das erste Mal in so eine Vorstellung gehen. Weil sie sich selbst wieder finden.
„Istanbul“ berührt die Menschen
Und er sagt dies durchaus selbstkritisch, habe man doch im Verlauf der letzten 24 Jahre unzählige Veranstaltungen gemacht und organisiert, die Resonanz war selten so überwältigend. „Dieses Stück spricht Themen an, die den Menschen seit vielen Jahrzehnten auf dem Herzen liegen.“ Was Klaus erlebt, haben sie selbst so in Stuttgart erlebt. Der Knochenjob, die Einsamkeit, die Sprachlosigkeit, das Durchkämpfen müssen für die Kinder, die es mal besser haben sollen. Und die große Frage: „Was ist Heimat?“ „Das ist ein ganz zentrales Thema“, sagt Falke, „das Menschen tief berührt.“ Egal, wo sie geboren sind. Reinhold Weiser selbst hat auch einen Migrationshintergrund, wie er sagt: „Ich bin Badener.“ Trotzdem sei er von den Stuttgartern überaus freundlich aufgenommen. Als Klaus Gruber hat er in „Istanbul“ einen VfB-Schal dabei, zum Wärmen in Erinnerungen, zum Festhalten am Gewohnten. Er selbst brauche keine KSC-Tasse, sagt er auf Nachfrage von Forstbauer, aber das Gefühl des Verlorenseins ist ihm nicht fremd aus seinen Jahren in San Francisco.
Für Axel Preuß ist das Stück „ein Glücksfall“. Jahrelang steht er mit dem Autorentrio Selen Kara, Torsten Kindermann und Akin E. Sipal in Kontakt, hat sich bemüht „Istanbul“ nach Stuttgart zu holen. „Das war ein langer Prozess“, sagt er, „wenn man die Resonanz sieht, hat sich das gelohnt.“ Das finden auch die Schauspieler. „Ich gehe jeden Abend aus dem Theater mit dem Gefühl , ich habe etwas Sinnvolles getan“, sagt Falke. Weiser ergänzt: „Dieses Gefühl, wir sind relevant für ganz viele Menschen, das finde ich unglaublich. So sollte Theater sein.“
Reinhold Weiser selbst hat es mit seiner Rolle als Klaus Gruber sogar aufs Titelbild der Europa-Ausgabe der türkischen Zeitung „Hürriyet“ gebracht. Von Stuttgart nach „Istanbul“, was für eine Reise. Auch das „Ortstermin“-Publikum erlebt noch einen Perspektivwechsel. Eben singen Reinhold Weiser und Selda Falke in einer Premiere noch das eindringliche Lied „Istanbul“, dann geht es hinauf auf die Bühne und hinein in die Seitengänge. Plötzlich im Licht – auch das gehört zu diesem Abend in der Veranstaltungsreihe „Ortstermin“ unserer Zeitung.