Viele Betroffene fühlen sich, als würden sie innerlich verbrennen Foto: dpa

Sexuelle Gewalt ist alltäglich – doch die Beratungsstellen in Baden-Württemberg sind am Limit. Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch (Grüne) sieht auch die Gesellschaft als Ganzes in der Pflicht.

Stuttgart/Balingen - „Die Aggression und Machtgier meines Vaters brachte für mich eine Vergewaltigung mit 9 Jahren und Missbrauch mit 13 Jahren. Diese Verbrechen ermöglichten für den Mann, dem ich vertraute, sich dreist an meinem Körper zu bedienen.“ So beschreibt eine Frau für die Ausstellung „Ich verbrenne von innen“ ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt.

Anlässlich seines zwanzigjährigen Bestehens hat der Verein Feuervogel, Träger der Informations- und Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt im Zollernalbkreis, die Wanderausstellung mit Texten von Betroffenen und Bildern des Fotografen Wolfgang Schmidt konzipiert, die gerade im Haus der Abgeordneten zu sehen war.

Schirmherrin und Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch (Grüne) ist das Thema wichtig: „Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache.“ Weltweit sei jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von Gewalt betroffen. „Sexuelle Gewalt hat ganz unterschiedliche Formen – aber sie ist in jeder Form menschenverachtend und gehört geächtet. Und sie geschieht auch hier, mitten unter uns und jeden Tag“, betont Lösch.

Für das Jahr 2014 registrierte das Landeskriminalamt (LKA) 5231 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Darunter fallen neben Vergewaltigung auch sexueller Missbrauch, exhibitionistische Handlungen und die Verbreitung von Pornografie. „Die Dunkelziffer dürfte jedoch um ein Vielfaches höher sein“, sagt die Landtagsabgeordnete Lösch. Von den 3602 Tatverdächtigen im vergangenen Jahr sind laut LKA 2430 männliche Erwachsene. Weit über die Hälfte der Opfer hingegen sind Frauen und Mädchen. Dies bestätigt auch die Heilpädagogin Theresa Ehrenfried, Leiterin der Beratung bei Feuervogel in Balingen.

Nur sie, ihre Kollegin Claudia Kanz und eine Verwaltungsfachkraft sind an der einzigen spezialisierten Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt im gesamten Zollernalbkreis hauptamtlich tätig. Ohne die acht weiteren ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen wäre die Arbeit in dem großen Einzugsgebiet nicht machbar.

Schon jetzt gilt für „Feuervogel“: „Wir haben die Kapazitätsgrenze erreicht. Deshalb beraten wir auch keine Kinder, sondern nur Jugendliche ab zwölf Jahren und Erwachsene“, erklärt Theresa Ehrenfried. Im akuten Fall versucht die Beratungsstelle so schnell wie möglich zu helfen, ansonsten müssen Betroffene derzeit bis zu drei oder vier Wochen auf einen Beratungstermin warten.

„Wir sehen die Notwendigkeit, noch mehr zu tun, zum Beispiel unsere Telefonberatung auszubauen, aber wir können es nicht“, schildert Maria Jensch-Wiget, ehrenamtliches Vorstandsmitglied, das Problem. Es fehlt das Geld.

Zwar stellt die Stadt Balingen der Beratungsstelle Räume mietfrei zur Verfügung, und 50 Prozent aller Kosten werden vom Landkreis gedeckt. Den Rest muss der Verein jedoch selbst finanzieren – etwa über Spenden und Mitgliedsbeiträge. „Das funktioniert nur mit großem Aufwand und bindet viel Energie, die eigentlich für unsere inhaltliche Arbeit notwendig wäre“, sagt Christine Wasner-Gölz, ebenfalls im Vereinsvorstand tätig. Zur inhaltlichen Arbeit gehört neben der kostenlosen Beratung auch die Prävention – Feuervogel bietet Schulen Projekte an, die diese jedoch selbst finanzieren müssen.

Claudia Kanz wünscht sich, dass vonseiten der Politik mehr getan wird. „Jede Schule sollte ein solches Präventionsprojekt haben“, sagt sie. Denn: „Oft werden wir erst gerufen, wenn es bereits zu spät ist.“ Auch in der Erzieher- und Lehrerausbildung müsste das Thema Prävention sexueller Gewalt ihrer Meinung nach fest verankert sein. Das sei derzeit nicht der Fall.

Der Landrat des Zollernalbkreises, Günther-Martin Pauli (CDU), lobt die Arbeit des Vereins als „sehr wertvoll“. Das Geld, das der Landkreis gibt, sei dort gut aufgehoben. „Im Vergleich zu anderen Landkreisen sind wir mit unserer finanziellen Unterstützung schon sehr stark unterwegs“, ist er überzeugt. Man müsse bedenken, dass es sich dabei um eine Freiwilligkeitsaufgabe des Landkreises handle. Die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle erkennen die Unterstützung dankbar an, sehen aber auch das Problem: „Wenn im Landkreis gespart werden muss, dann natürlich zuerst an freiwilligen Angeboten“, sagt Christine Wasner-Gölz.

Deshalb hoffen sie und ihre Kolleginnen darauf, dass der Beratungsanspruch für Opfer sexueller Gewalt gesetzlich verankert wird. Denn die Situation von Feuervogel lasse sich auf die große Mehrzahl der 56 Beratungsstellen in Baden-Württemberg übertragen. „Wenig Personal und geringe Finanzierung sind ein generelles Problem“, betont Beraterin Theresa Ehrenfried.

Die Landesregierung versucht, dem mit einem im Dezember verabschiedeten Landesaktionsplan gegen Gewalt an Frauen entgegenzuwirken. 3,6 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Dieser Plan sei „ein wunderbarer Einstieg“, sagt Lösch. Freilich müssten die Maßnahmen nach einiger Zeit evaluiert und gegebenenfalls nachjustiert werden. Doch sie sieht auch die Gesellschaft als Ganzes in der Pflicht, das Bewusstsein für sexuelle Gewalt zu schärfen. „Viele Frauen empfinden Scham und Schuld, wenn ihnen Gewalt widerfahren ist. Wir müssen klarmachen: Schuld ist allein der Täter“, betont die Grünen-Abgeordnete.

Dass ein Wandel stattfindet, stellen die Beraterinnen von Feuervogel bereits fest: „Betroffene melden sich früher, sie trauen sich eher, sich Hilfe zu holen“, sagt Theresa Ehrenfried. Das erkläre zum Teil auch die gestiegenen Fallzahlen und die Anfragen von immer jüngeren Betroffenen.

Und viele von ihnen versuchen, mit dem Satz „Ich verbrenne von innen“ für das Unaussprechliche Worte zu finden.