Marc Oliver Hendriks lenkt die Staatstheater Stuttgart als Geschäftsführender Intendant Foto: Staatstheater Stuttgart/Maks Richter

Schreckensnachrichten bestimmen aktuell das „Jahrhundertprojekt“ Erweiterung des Staatstheater-Areals und Sanierung des Opernhauses in Stuttgart. Was sagt Marc-Oliver Hendriks, Geschäftsführender Intendant der Staatstheater?

Die vergangenen Tage hatten es in sich für die Staatstheater Stuttgart: Ein Bericht unserer Zeitung über eine mindestens vier Jahre längere Bauzeit für das am Nordbahnhof geplante Interimstheater und Gesamtkosten von bis zu zwei Milliarden Euro für das Gesamtprojekt einer Erweiterung des Staatstheater-Areals um 10000 Quadratmeter Nutzfläche am Standort, Neubau eines Kulissen- und Werkstattgebäudes im Areal Zuckerfabrik sowie Generalsanierung des Opernhauses bestimmte am Montag auch die Verwaltungsratssitzung der Staatstheater sowie die Aufsichtsratssitzung der Projektgesellschaft Württembergische Staatstheater. Wie geht es in Oper, Ballett und Schauspiel nun weiter? Wir haben nachgefragt – bei Marc-Oliver Hendriks, Geschäftsführender Intendant der Staatstheater Stuttgart.

 

Herr Hendriks, statt 2029 wird das Interimtheater am Nordbahnhof erst 2033 oder 2034 fertig werden. Die Staatstheater stehen zeitlich wieder einmal vor einem Planungs-Scherbenhaufen. Wie fühlt sich das an?

Die Planungen der Staatstheater laufen je nach Sparte bis zu vier Jahre im Voraus. Die Spielzeit 2028/29 hatten wir bereits bisher fest für das Opernhaus geplant. Die Disposition der weiteren Spielzeiten bis 2032/33 werden wir nun auf dieser Grundlage fortsetzen.

Mit Spannung erwartet: „Idomeneo“-Premiere im Opernhaus am 24. Mai: Foto: Oper Stuttgart

Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gingen mit großem Elan in die inhaltlichen Planungen für das Interim beziehungsweise das doppelte Planungsdenken für Noch-Opernhaus und Schon-Interim. Fürchten Sie jetzt ein tiefes Tal der Enttäuschung?

Die Aufrechterhaltung der Motivation ist Teil unserer Führungsaufgabe als gesamte Intendanz. Der künstlerische Erfolg und die Reaktionen unseres Publikums helfen da natürlich enorm. Mittlerweile haben wir intern ein beachtliches Wissen aufgebaut, um alle Aspekte von Sanierung und Erweiterung im Bereich der Bühnen herum. Dieses Wissen ist ein Schatz, der erhalten bleibt und in alle zukünftigen Projekte einfließen wird.

Was bieten Sie zur Aufmunterung?

Für das Publikum exzellente Qualität in den täglichen Aufführungen in allen drei Sparten. Die letzten beiden Spielzeiten sind dafür ja ein eindrücklicher Beweis. Und für die Beschäftigten das Prinzip Hoffnung, weil am Ende immer nur eine gute Lösung herauskommen darf! Dafür stehen wir ein.

Aus unterschiedlichsten Bereichen baut sich eine Gegenwelle auf. Deshalb noch einmal die Frage: Weshalb muss am Standort erweitert werden, weshalb muss das Opernhaus generalsaniert werden?

Das Haus ist mittlerweile 112 Jahre alt. Die letzte Sanierung liegt nunmehr 40 Jahre zurück. Die Bühnen- und Gebäudetechnik ist in weiten Teilen abgängig und hat das Ende ihrer Lebenszyklen erreicht. Die Infrastruktur ist schlichtweg aufgezehrt. Wir sind jahrelang massiv auf Verschleiß gefahren worden. Das Gebäude benötigt nun eine grundsätzliche Kernsanierung in allen Gewerken.

Wir sind viele Jahre über der Ursprungsplanung. An der Kreuzbühne halten Sie fest oder gibt es inzwischen andere Bühnentechniken?

Das nicht kriegszerstörte Stuttgarter Opernhaus stammt aus dem Jahr 1912 und bildet in seinem Grundriss auch heute noch die seinerzeitigen Produktionsbedingungen wieder. Damals waren das wesentliche bühnenbildnerische Gestaltungselement die Aushängung und der gemalte Prospekt. Dieses Gestaltungsprinzip ist für das Ballett auch heute noch gültig.

Und im Musiktheater?

In der Oper hat sich im Laufe der vergangenen 100 Jahre und insbesondere in der Nachkriegszeit eine Verschiebung hin zu dreidimensionalen Gestaltungsformen und zuletzt auch sehr stark zu Projektionstechniken entwickelt. Holografische Gestaltungsmöglichkeiten werden die nächste Phase der Entwicklung einläuten. Die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder errichteten oder neu gebauten Opernhäuser in Deutschland haben in ihrem Grundriss dieser Entwicklung Rechnung getragen. Eine Kreuzbühne würde einen Teil dieser Entwicklungen nachholen, ohne dabei gänzlich den Standard heutiger Bühnenneubauten wie beispielsweise in Kopenhagen zu erreichen.

A propos Bühnentechnik. Seit Jahren verkünden Sie das mögliche Aus des im Bestandsschutz laufenden Spielbetriebs. Wie sieht es wirklich aus?

Als Betreiber stehen wir in der Pflicht, für die Beschäftigten und die Besucher sichere Arbeits- und Betriebsbedingungen zu gewährleisten. Bei einer Verschiebung des Sanierungsbeginns um vier Jahre müssen Art, Umfang und Dauer der jährlichen Bauunterhaltungsmaßnahmen grundlegend überdacht werden.

Das heißt, Sie brauchen jährlich mehr Geld für die Betriebssicherheit und mehr Zeit im Sommer, um diese Betriebssicherheit herzustellen?

Das wird spätestens ab der Sommerpause 2027 so sein. Nur dann ist die Betriebsfähigkeit des Opernhauses bis in die Mitte des kommenden Jahrzehnts sicherzustellen.

Umso lauter werden die Rufe nach einem Stopp des Ganzen und nach einem Neubau des Opernhauses. Ist dieser wirklich völlig undenkbar?

Die letzten Jahre haben uns in vielen Lebensbereichen das Undenkbare denken gelehrt. Trotzdem gilt natürlich weiterhin: Planänderungen tragen nicht zur Beschleunigung der zwingend erforderlichen Baumaßnahmen bei. Und die Vorstellung, diese seien dann auch noch zu geringeren Kosten möglich, bleibt eine Illusion. Die seit 2018 eingetretenen Steigerungen der Baupreise sind erheblich und nicht mehr umkehrbar. Inflation kennt nur eine Richtung.

Alle drei Sparten verzeichnen erstaunliche Publikumszahlen. Wie geht es Ihnen mit diesem Widerspruch: Die Nachfrage steigt, das Angebot ist immer schwieriger herzustellen?

Das ist eine höchst ambivalente Situation für uns alle. Und jeden Tag beweisen wir in allen drei Sparten und auf allen Ebenen aufs Neue, dass es irgendwie ja trotzdem weiter geht.

Marc-Oliver Hendriks

Zur Person
Marc-Oliver Hendriks, 1970 in Duisburg geboren, studierte an den Universitäten Duisburg und Konstanz Anglistik, Politische Wissenschaften, Geschichte und Latinistik. Ein Jahr später begann er sein Jurastudium bis zu seinem ersten Staatsexamen 1995. In den Jahren 1997 bis 1999 arbeitete er im juristischen Vorbereitungsdienst in Berlin, unter anderem als persönlicher Referent des Geschäftsführenden Direktors der Deutschen Oper und nutzte die Zeit auch für Studienaufenthalte in London und Lausanne. Nach seinem zweiten Staatsexamen 1999 wurde er Verwaltungsdirektor und stellvertretender Intendant des Theaters Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen, wechselte 2003 als Geschäftsführender Direktor an die Bayerische Theaterakademie August Everding. Seit 2009 ist Hendriks Geschäftsführender Intendant am Staatstheater Stuttgart. Sein aktueller Vertrag läuft bis 2027.