Catherine Naglestad als Carlotta (li.), John Daszak als Alviano in München Foto: Winfried Hösl

In Stuttgart erinnert man sich noch gut an Martin Kusejs eindrucksvolle Inszenierung von Franz Schrekers Hauptwerk. Jetzt hat Krzysztof Warlikowski es an der Bayerischen Staatsoper inszeniert.

München - Alles ist da, was Oper ist und sein will: Opulenz, Glanz, Grenzüberschreitung, eine Reizüberflutung der Sinne. Franz Schrekers musiktheatralisches Hauptwerk „Die Gezeichneten“, 1918 uraufgeführt in Frankfurt, dort 1979 durch Hans Neuenfels und Michael Gielen der vom just aufblühenden Regietheater frisch belebten Gattung erneut zugeführt und 2002 von Martin Kusej an der Staatsoper Stuttgart in einer viel bejubelten Inszenierung nochmals wiederaufbereitet, hat noch heute das Potenzial zur Überwältigung.

Als die Münchner Opernfestspiele am Samstag mit ihrem offiziellen Programm in der Bayerischen Staatsoper begannen, hätte es kein passenderes Anfangsstück geben können als diese einstige Skandaloper um einen körperlich entstellten Mann, der weder durch unterschiedliche Formen der Sublimierung noch in der Begegnung mit einer Frau die Liebe erringt, nach der er sich sehnt. Die Produktion ist nicht allein ihrer vielen geforderten Solisten wegen ein Kraftakt für jedes Haus. Eros, Gewalt, Lust, Triebe, seelische Abgründe, extreme Gefühle: Das findet man in dem Text, den der von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamierte und von der Zweiten Wiener Schule mitsamt ihren Folgen ins Abseits gedrängte Komponist nach Vorlagen von Wilde und Wedekind selbst schrieb, und man hört es auch in der Musik, die zuweilen impressionistische Klang-Parfums absondert, manchmal aber auch nach (Puccinis) Wagner und noch häufiger nach Richard Strauss klingt – eine ungemein vielfarbige Musik, in der rund um kleine Melodiefloskeln herum üppige Klangwogen wallen, stark assoziativ den Text umkreisend, wie wenn Schreker Freuds Traumdeutung in einer Partitur zum Klingen habe bringen wollen.

Balance zwischen Klangwogen und Kammermusik

Ingo Metzmacher dirigiert „Die Gezeichneten“ in München, und mit großer Kunst steuert er das Bayerische Staatsorchester sicher derart zwischen mächtigen Klangballungen und transparent-filigranen, fast kammermusikalischen Momenten hindurch, dass den Sängern nur selten allzu Lautes abverlangt wird. Vor allem Catherine Naglestad als Carlotta dankt es dem Dirigenten mit subtil erblühenden Phrasen und mit vielen jener fein abgetönten Piano-Spitzentöne, für die man sie auch in Stuttgart verehrt(e). Sie ist die Künstlerin, John Daszak der Krüppel Alviano, und den gibt der englische Tenor mit einer Hingabe, welche die Grenzen der in der Höhe oft forcierten Stimme nicht vergessen macht, wohl aber in den Hintergrund rückt. Exzellent singen neben den beiden Christopher Maltman als Alvianos Konkurrent Tamare und Tomasz Konieczny als Adorno.

Auf die ziemlich leere und ziemlich steril wirkende Bühne von Malgorzata Szczesniak senken sich immer wieder Zwischenwände, die mal Fensterfronten sind, mal aber auch Spiegel, in denen sich das Opernpublikum selbst sehen kann. Das ergibt Sinn, denn Krzysztof Warlikowski geht es in seiner Inszenierung weniger um ein besonderes Individuum als um die Reibung zwischen Kunst und Leben, und die Kunst schließt die Gattung Musiktheater ebenso ein wie den Film. Stummfilmklassiker werden in Ausschnitten gezeigt („Frankenstein“, „Nosferatu“, „Der Golem“), und es gibt ein nettes Video, in dem graue Mäuschen jene (weiblichen) Geschlechterrollen vorführen, um die es an diesem Abend auch ein bisschen geht (das knallige Gegenstück dazu bilden Boxkämpfe im Ring, einem der Ur-Orte des Machismus). Das tun sie mit Anspielung auf Franz Kafkas Erzählung „Die Sängerin Josefine oder Das Volk der Mäuse“, die Warlikowskis Bilder inspirierte, aber auch augenzwinkernd, und im letzten Akt zwinkert der ganze Chor mit, wenn er in Mäuschenkostümen die unter dem schönen Namen Elysium erbaute Insel bevölkert.