Wenn Wissen Macht ist, gehört Wikipedia zu den mächtigsten Plattformen der Welt. Ein Porträt.

Stuttgart - Wenn Wissen Macht ist, gehört Wikipedia zu den mächtigsten Plattformen der Welt. Millionen informieren sich hier. Doch wer steckt hinter dem Internet-Lexikon? Und wie groß ist der Einfluss?

Die Person hinter dem Nutzernamen RaBoe ist 46 Jahre alt, Diplomingenieur und ein Idealist aus Stuttgart. Nach der Arbeit, wenn die Kinder im Bett sind, setzt sich RaBoe an den Computer, bearbeitet Artikel und stellt Bilder ins Internet. Täglich, ein bis zwei Stunden lang. Und das kostenlos, denn RaBoe ist ein Wikipedianer - ein Autor für Wikipedia. Seit das Online-Nachschlagewerk am 15. Januar 2001 gegründet wurde, hat es sich zu einem der spektakulärsten internationalen Mitmach-Projekte der Geschichte entwickelt. Weltweit haben Nutzer 17 Millionen Artikel in über 270 Sprachen verfasst. Monatlich verwenden es 400 Millionen Besucher, schlagen zum Beispiel nach, welche Filme Brad Pitt gedreht oder wer bei Real Madrid die meisten Tore geschossen hat. Auch jeder zweite Deutsche war bereits dabei, wenn es im Bruchteil einer Sekunde das Ergebnis gab.

Wenn Wissen Macht ist, gehört Wikipedia zu den mächtigsten Plattformen der Welt. Gemessen an der Besucherzahl rangiert das Portal laut Meedia weltweit auf Platz 5 der Internet-Seiten - hinter Facebook, You Tube, Yahoo und Windows Live-Messenger. Es ist das einzige nichtkommerzielle Portal unter den Top 25, denn Wikipedia wird von einem gemeinnützigen Verein getragen. Das Potenzial ist gewaltig. Was wäre, wenn Wikipedia nach dem Google-Modell Werbung zuließe - klar von den Lexikonartikeln getrennt? "Das ist natürlich hochspekulativ - aber mit diesem Geschäftsmodell könnte Wikipedia wegen seiner enormen Reichweite mit seinem Unternehmenswert in die Nähe von Yahoo rücken", heißt es bei der Unternehmensberatung Ernst & Young in Stuttgart. Yahoo erzielte zuletzt einen Umsatz von 1,12 Milliarden Dollar und wurde an der Börse mit rund 20 Milliarden Dollar (15 Milliarden Euro) bewertet.

Doch Gründer Jimmy Wales hat die Kommerzialisierung Wikipedias stets abgelehnt, sie würde von der Wiki-Gemeinde auch als Verrat gesehen. Das Projekt steht für den freien, kostenlosen Zugang zu Wissen, für das gemeinsame weltweite Werk von Freiwilligen. Einmal im Jahr bittet das Portal um finanzielle Unterstützung. Allein 70.000 Deutsche spendeten in den vergangenen zwei Monaten 2,3 Millionen Euro. Das waren dreimal so viele wie im Vorjahr. Auch das ist ein Zeichen, wie viele sich inzwischen auch finanziell für das Mitmach-Lexikon engagieren.

Doch die Arbeit der Freiwilligen ist am meisten wert. Mitte 20 sind sie im Schnitt, die Hälfte Akademiker, fast neun von zehn sind Männer. Das Spektrum könnte breiter sein, heißt es beim deutschen Wikipedia-Zweig. Man suche mehr Schreiber, die unterschiedlich leben, gebildet und alt sind. "Das brauchen wir, um breitere Sichtweisen zum Tragen kommen zu lassen", sagt Geschäftsführer Pavel Richter. Man suche deshalb Autorinnen. Und Senioren. Unter dem Projektnamen "Silberwissen" werden sie seit kurzem in Workshops in Berlin in die Wikiwelt eingeführt, auch in Baden-Württemberg soll es bald so weit sein.

RaBoe kontrolliert, ob die Artikel etwas taugen

Sie könnten eine Karriere starten wie RaBoe, der nach Maßstab des Internets selbst zur älteren Generation zählt. Als er 2005 einstieg, bearbeitete er die Wikipedia-Artikel, ohne sich vorher anzumelden. Das darf jeder. Um auch Fotos hochladen zu können und sich in der Wiki-Gemeinschaft einen Namen zu machen, registrierte er sich. 1,14 Millionen angemeldeter Nutzer gibt es allein in Deutschland. Außerdem arbeitet RaBoe als Sichter, das heißt, er liest Artikel gegen und befindet sie für gut oder schlecht. Sichter werden von einem der 300 deutschen Administratoren ernannt. Diese genießen das besondere Vertrauen der Wiki-Gemeinschaft und haben das Recht, Seiten zu löschen bzw. wiederherzustellen oder bei faktischen oder verbalen Ausfällen Nutzer zu sperren.

Denn auch wenn Wikipedia die Welt der Guten ist, geht es bisweilen recht böse zu. "Bei politischen und religiösen Themen werden die Diskussionen besonders heftig geführt und oft unterhalb der Gürtellinie ausgetragen. Da wird schon mal gedroht", sagt RaBoe. Auch etliche Selbstdarsteller seien mit im Spiel - und Klüngel, die ihre Sichtweise durchsetzen wollten. In der Regel aber ohne Erfolg, weil es gleichzeitig viele Gegenmeinungen gebe.

Dennoch: Noch immer heißt die Gretchenfrage, wie glaubwürdig Wikipedia ist. Schließlich gab es den ehemaligen Siemens-Vorstandsvorsitzenden, an dessen Biografie die hauseigene PR-Abteilung beteiligt war. Oder den falschen Vornamen, der Karl-Theodor zu Guttenberg nach seiner Ernennung zum Bundeswirtschaftsminister verpasst wurde. Doch Vergleiche mit renommierten gedruckten Lexika wie dem "Brockhaus" oder der "Encyclopedia Britannica", die die Online-Macht vom Markt verdrängte, haben Wikipedia schon vor Jahren ein glänzendes Zeugnis beschieden. In der Mehrzahl der Kriterien Richtigkeit, Vollständigkeit, Aktualität und Verständlichkeit schnitt das Mitmach-Lexikon besser ab. Dass die leicht anarchistische Schwarmintelligenz das traditionelle Autorenkollegium besiegte, ist schlichtweg revolutionär. Das Experiment zeigt auch: Wenn man Vertrauen in die Klugheit von vielen setzt, muss am Ende nicht die Diktatur des Mittelmaßes stehen.

Doch selbst Wikipedianern ist das zuweilen zu viel Revolte. Denn mit der permanenten Revolution geht die leidliche Frage einher, was überhaupt ins Internet-Lexikon soll. Die "Exklusionisten" pochen auf ein Mindestmaß an Relevanz. Die "Inklusionisten" wollen generell möglichst viele Beiträge zulassen. Anders gesagt: Ist die "Deutschland sucht den Superstar"-Teilnehmerin Nicole Süßmilch einen Eintrag wert? Offensichtlich ja.

Auch RaBoe kennt solche Diskussionen. Seit 2005 ist er dabei, hat 40 Artikel neu angelegt und geschrieben, als Sichter 2000 bearbeitet und mehr als 11.000 Bilder eingestellt. "Wikipedia ist Teil meines Lebens geworden", sagt er. Und auch da laufe eben nicht alles rund. Er schätzt, dass wohl 95 Prozent der Wiki-Beiträge fehlerfrei seien. Und offensichtliche Manipulationsversuche von Unternehmen, Politikern oder Privatpersonen würden fast immer bemerkt - auch wenn es manchmal etwas dauere. Dann sind die Falschinformationen allerdings im weltweiten Netz aber oft längst im Umlauf. Auch daran sieht man die Wissensmacht, die Wikipedia hat. RaBoe warnt deshalb auch ein bisschen vor sich selbst: "Man darf Wikipedia nicht alles glauben."