Über den Dächern von Fellbach: Marcel Nguyen bei der STB-Olympiaverabschiedung Foto:  

Viele Wege führen nach Rio – selten werden sie allein beschritten. In unserer Serie stellen wir die unterschiedlichsten Sportler-Trainer-Konstellationen vor. Der Turner Marcel Nguyen holte bereits bei den Spielen in London zweimal Silber.

Stuttgart - Bei der offiziellen Verabschiedung der Olympia-Athleten ließ sich die Kreativabteilung des Schwäbisches Turnerbundes (STB) neulich etwas abenteuerliches einfallen. Mit dem wackeligen Bauaufzug ging es in den Wohn-Wolkenkratzer hoch, der sich in Fellbach zurzeit im Rohbau befindet. Es ging über das 20. Stockwerk hinaus – nur etwas für schwindelfreie Freunde.

Weil es oben noch keine Fenster gab, zischte der Wind gefühlt mit Stärke Zehn durch die ungemütliche Location. Dass dem STB-Präsidenten Wolfgang Drexler der Zettel wegflog, auf dem seine Ansprache notiert war, ging noch als einigermaßen witzig durch. Doch die Athleten zogen sich die Krägen ihrer Trainingsjacken bis zu den Nasenspitzen hoch. Erkältungsgefahr während der Olympia-Vorbereitung – alles, nur nicht das! Unsorgsamer als der STB kann man mit seinen Athleten nicht umgehen.

In ihren Jacken steckten auch Marcel Nguyen und Valeri Belenki, der Turner und sein Trainer. Das ist insofern eine interessante Konstellation, da der Trainer Belenki Mannschafts-Olympiasieger im Jahr 1992 geworden war und der Turner Nguyen 20 Jahre später in London am Barren und im Mehrkampf Silber holte. Mit anderen Worten: der Coach hat die Messlatte hochgelegt, die es zu überspringen gilt. Und als die beiden während des wundersamen Hochhaus-Termins unter dem pfiffigen Motto „STB-Turner wollen hoch hinaus“ einträchtig nebeneinander standen, da wurde Belenki vom Moderator gebeten, doch mal kurz in seine Hosentasche zu greifen.

Für eine Medaille muss diesmal alles zusammenpassen bei Marcel Nguyen

Was für ein wunderbarer Zufall! In der Hosentasche fand der Ex-Turner sein Olympia-Gold, das er wohl auf Aufforderung mitbrachte. Er hatte es fein säuberlich in ein Tuch gewickelt. Alle anderen Athleten, also Gymnastinnen, Turnerinnen oder auch Nguyen durften sich das Ding kurz angucken. Wenn das kein Anreiz für die Spiele in Rio de Janeiro ist! Aber: so richtige Goldmedaillen-Kandidaten sind nicht dabei gewesen bei der Hochhaus-Session des STB. Und bei Nguyen muss wirklich alles zusammenpassen, wenn es einen Preis geben soll.

Die Hoffnung, heißt es, sie stirbt zuletzt. „Mit der Mannschaft ins Teamfinale kommen und schauen, was drin ist“ – das ist es, wovon Nguyen spricht. „Er ist topfit, wir arbeiten noch an Kleinigkeiten“, sagt derweil Belenki, der seinem Mann auch am Barren eine Medaille zutraut. Zu Belenki schaut Nguyen auf. Die Tatsache, dass ihn ein Olympiasieger trainiert, wirkt sich auch auf das Binnenklima aus – also zollt der Turner seinem Trainer auch höchsten Respekt. „Valeri weiß, wovon er spricht, er hat alles selbst durchgemacht. Und er hat auch harte Zeiten erlebt als Turner der UdSSR“, sagt Nguyen, der der Sohn einer Deutschen und eines Vietnamesen ist und im Hinblick auf seine Herkunft mit vollem Namen Marcel Van Minh Phuc Long Nguyen heißt.

Überbleibsel der auf Drill ausgerichteten Sowjetschule prägen indes das Training des Valeri Belenki. Aber nicht nur. „Er ist ein strenger Trainer, aber wir haben auch viel Spaß miteinander“, sagt Nguyen. Er weiß auch selbst inzwischen wie wichtig Disziplin ist. Er musste sich in dieser Hinsicht erst entwickeln – und Belenki half ihm dabei. Seit 2009 arbeiten sie miteinander. Noch vor einigen Jahren ist der 28 Jahre alte Turner öfter mal um die Häuser gezogen, doch jetzt hat er den Ernst der Lage erkannt. „Ich mache mir heute viel mehr Gedanken und trainiere intelligenter als früher“, sagt Nguyen – und Valeri Belenki nickt. Disziplin ist alles – ohne sie geht es nicht.

Valeri Belenki steht voll und ganz hinter seinem Turner

Sie bezeichnen sich als eingespieltes Team. Wenn der Turner jedoch am Gerät ist, bringt es nichts, wenn der Coach sich lauthals äußert oder irgendwelche Codewörter benutzt, denn dann befindet sich der Akteur so im Tunnel, dass er um sich herum nichts mehr wahrnimmt. So bestimmen Videoanalysen den Trainingsalltag. Darauf sehen sie, ob die Beine eng genug beieinander geführt oder im anderen Fall auch weit genug gespreizt wurden. Belenki ist von seinem Schützling im Prinzip aber total begeistert – er hält ihn für einen der besten Turner der Welt. „Was er macht, ist der Wahnsinn“, sagt der Coach, der festgestellt hat, dass sich im Vergleich zu seiner aktiven Zeit das Niveau enorm gesteigert hat. Auch das gehört zum Trainingsprinzip des Valeri Belenki. Er steht voll und ganz hinter seinem Mann – und bewundert ihn auch. Das gibt Auftrieb.

Am Ende ist es sogar so, dass Gold-Belenki den Silber-Nguyen etwas beneidet. „Wenn ich ihn so turnen sehe, würde ich am liebsten auch noch mal an die Geräte springen“, sagt der Trainer. Nach zwei Schulteroperationen sei das allerdings nicht mehr möglich. Außerdem: Der in Baku Geborene ist ja auch schon stolze 46 Jahre alt. Und man sieht ihm auch an, dass er vermutlich auch die gute Küche schätzt.

Auf jeden Fall ist es vernünftig, dass Belenki nicht mehr an die Geräte greift – vor allem Nguyen sieht es so. „Wenn er sich verletzt, fällt er als Trainer aus – und das geht nicht.“ Die Rollen müssen also klar verteilt bleiben. Mal schauen, was für das Gespann in Rio möglich ist. Mit dieser Frage steigen Marcel Nguyen und Valeri Belenki in Fellbach dann wieder in den Bau-Aufzug und knattern zurück auf die Erde. Mit dabei: Belenkis Olympia-Gold aus Barcelona. Vielleicht darf sein Schützling mal dran schnuppern. Aber nur vielleicht...