Die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein ist 45 Jahre alt und bestreitet ihre siebten Olympischen Winterspiele. Sie will es ihren Kritikern zeigen, die sie für eine Dopingsünderin halten.
Pyengchang - Der Kuss des Judas: Es wäre eine Szene wie geschaffen für einen Film, wenn es tatsächlich dazu käme. Wenn Claudia Pechstein bei den Winterspielen in Pyeongchang eine Medaille gewinnen würde, ganz gleich, ob über 3000 oder ihre Paradestrecke 5000 Meter, im Massenstart oder der Teamverfolgung, dann würde sie bei der Siegerehrung auf dem Podium stehen. Womöglich müsste Jan Dijkema, der Präsident des Eisschnelllauf-Weltverbandes ISU, ihr die Medaillen um den Hals hängen – und danach, wie das bei Siegerehrungen allgemein üblich geworden ist, ein Küsschen auf die Wange drücken. Und das bei Olympia! Vor aller Welt! Ein Gedanke, der Claudia Pechstein mit einer Genugtuung erfüllen würde, die tiefer wäre als der Marianengraben vor den Philippinen. Der bringt es als tiefste Stelle der Weltmeere immerhin auf gut 11 000 Meter unter dem Meeresspiegel. „Dieses Bild wäre in seiner Heimat Holland auf den Titelseiten“, sagte die Berlinerin, „beim letzten Mal musste er mich küssen, und er wollte nicht. Das tat ihm richtig weh.“
Es könnte die Schlussszene des Films über die Karriere der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein sein. Doch noch hat der Regisseur des Lebens die Schlusssequenz nicht festgelegt, noch weiß keiner so ganz genau, ob es eher ein Actionstreifen mit großem Showdown à la „Gladiator“ und „Ben Hur“ wird oder ein verwinkelter Justiz-Thriller im Stile von „Die Jury“ oder ein Drama mit traurigem Ende wie „Titanic“.
Eine skurrile Komödie
Sicher ist lediglich, zu einer skurrilen Komödie wie „Ein Fisch namens Wanda“ taugt die Vita der kleinen Frau mit großem Kämpferherzen nicht. Dazu ist ihre Geschichte viel zu ernst und die Hauptdarstellerin zu wenig eine zum Knuddeln. Dass die Berlinerin mit beinahe 46 Jahren, am 22. Februar erreicht sie dieses Alter, auf den Eisovalen dieser Welt noch immer um Hundertstelsekunden mit ihren zum Teil halb so alten Konkurrentinnen feilscht, liegt in dieser Fehde begründet, die die ISU und Claudia Pechstein so vehement und ausdauernd wie den Dreißigjährigen Krieg austragen. Nur noch nicht so lange. Dabei geht es um die zweijährige Dopingsperre, die der Weltverband wegen überhöhter Blutwerte von 2009 bis 2011 ausgesprochen hatte. Nur aufgrund von Indizien, eine positive Probe hatte niemals vorgelegen.
Pechstein verpasste Olympia 2010, was sie der ISU nicht vergeben kann, so sind die Spiele in Südkorea ihre siebten. Mit acht Teilnahmen wäre sie alleinige deutsche Rekordhalterin vor Reiter Ludger Beerbaum und Schütze Ralf Schumann mit je sieben. Claudia Pechstein kann nicht aufhören, nicht bevor diese Schmach der Dopingsperre getilgt ist. Damit geht auch der Rechtsstreit über 4,4 Millionen Euro Schadenersatz einher, der anstellig ist. Die Sportlerin ist eine Getriebene ihres Schicksals. „Manchmal kommt der Gedanke ans Aufhören auf, aber nur unterschwellig“, erzählte sie vor dem Flug nach Fernost, „denn es gibt keine Option zu dem, was ich auf dem Eis tue. Ich habe schließlich einen Kampf zu führen. Und nur durch sportliche Erfolge kann ich in dem Kampf gegen meine skandalöse, ungerechtfertigte Dopingsperre zurückschlagen.“
„Seid bloß ruhig“
Als äußeres Zeichen, als sichtbare Kriegsflagge gegen die ISU, legt sie nach jedem Erfolg den Zeigefinger auf die Lippen. Das Symbol bedeutet: „Seid bloß ruhig, ihr bei der ISU, solange ich so weiterlaufe.“ Der Finger richtet sich auch gegen Thomas Bach, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Der hatte seine Landsfrau 2009, damals war der einstige Fechter noch Chef des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), im Kampf gegen die Dopingsperre der ISU nicht unterstützt. Seitdem zählt auch der Tauberbischofsheimer zu ihren Intimfeinden. Sie nannte ihn vor den Sommerspielen 2016 einen „Lügner, wenn er behauptet, es gelte für jeden Sportler die Unschuldsvermutung. Er hat sich kaufen lassen.“ Bach sah sich nicht zum Ausschluss des russischen Teams wegen des Dopingskandals veranlasst. Sie forderte den Herrn der Ringe zum Rücktritt auf, weil er nicht intervenierte, dass eine chinesische Geherin trotz einer positiven Dopingprobe vom 7. Mai 2016 bei Olympia im August in Brasilien starten durfte. Dass ihre Worte bald verhallten wie das Rufen in einer Tropfsteinhöhle , hatte sie wohl erwartet; und doch schmerzte es. Also bleibt Claudia Pechstein nichts anderes übrig, als weiter ihre Kreise zu drehen.
Der DOSB schließt Frieden
Die neue DOSB-Spitze hat ihren Frieden mit der entschlossenen, streitbaren Bundespolizistin geschlossen. DOSB-Experten haben die Sperre als Fehlurteil eingestuft. Verbandschef Alfons Hörmann, seit Dezember 2013 im Amt, hält sie für ungerechtfertigt gesperrt. So war es für ihn keine Frage, sondern eine Freude, dass Claudia Pechstein eine der fünf Personen gewesen ist, denen die symbolträchtige Aufgabe zuteilwerden sollte, die deutsche Fahne bei der Eröffnungsfeier der Spiele 2018 zu tragen. „Eine Ehre“ sei es, „der DOSB unterstreicht damit meine Rehabilitierung“, meinte sie – wäre es nach dem DOSB gegangen, würde sie an diesem Freitag ins Olympiastadion von Pyeongchang vor dem deutschen Team marschieren.
Vehementer Kampf
Doch die Wahl, die sich aus den Stimmen des Publikums und der deutschen Olympioniken zusammensetzte, sah Kombinierer Eric Frenzel vorne. Das mag daran liegen, dass es erstens noch Menschen gibt, die die Eisschnellläuferin nach wie vor für eine Dopingsünderin halten. Es liegt aber wahrscheinlich zweitens auch daran, dass diese Frau wegen der Vehemenz ihres Kampfes und der damit einhergehenden (temporären?) Verbitterung einfach nicht zu Everybody’s Darling taugt. Und dass ihre Entourage mit ihrem Lebensgefährten Matthias Große mit Kritikern ziemlich unsensibel und bisweilen verbal reichlich robust umgeht, was verständlicherweise auf Pechstein abstrahlt.
„Ich bin gerne an der Seite des ,umstrittenen‘ Matthias Große“, sagte die fünfmalige Olympiasiegerin kürzlich Medienvertretern, denen die Akkreditierung ihres Partners als Mentalcoach sauer aufstieß. Pechstein, die ewig Unverstandene. Also muss sie weiter laufen und weiter und weiter. Wenn es sein muss bis Peking 2022.