Zu Gast in Stuttgart: die Schriftstellerin Olga Grjasnowa Foto: René Fietzek

Die Berliner Autorin Olga Grjasnowa erzählt in ihrem neuen Roman „Der verlorene Sohn“ eine alte Geschichte vom russischen Zarenhof. Doch was dort geschieht, ist brandaktuell. Nun war sie im Stuttgarter Literaturhaus zu Gast.

Stuttgart - Kultur entsteht nur aus Vermischung – dieser Satz ist so leicht gesagt und unbezweifelbar wahr, auch wenn er offenbar bei einer nicht ganz kleinen Gruppe der Menschen große Ängste auslöst. Aber wer wollte widersprechen, wenn beispielsweise Olga Grjasnowa ihn ausspricht, die 35-jährige Autorin aus Berlin, die mit ihrem Romandebüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ 2012 zu einem Shooting-Star der jungen deutschsprachigen Literatur wurde? Am Donnerstagabend hat sie im Stuttgarter Literaturhaus ihren aktuellen Roman „Der verlorene Sohn“ vorgestellt, in ihrer Werkliste die laufende Nummer 4. Und auch, wenn sie dabei genretechnisch betrachtet etwas ganz Neues wagt – sie legt nach drei Gegenwartsgeschichten nun einen historischen Roman vor -, bleibt die Autorin ihren Themen trotzdem treu.

Im Internet wird Grjasnowa als „deutsche Schriftstellerin“ geführt – das ist ganz schön mutig bei einer Biografie, die mit Geburt und Kindheit in Baku in Aserbaidschan beginnt, in der die familiären Wurzeln aber weit nach Russland und uns Ostjudentum reichen. 1996 ging es mit der Familie als „Kontingentflüchtlinge“ in die hessische Provinz, die Studienzeit führte sie nach Polen und Moskau; geheiratet hat sie unterdessen einen syrischen Schauspieler. Was ist da eigentlich ihre Heimat? „Ich war mal sicher, Berlin sei meine Heimatstadt“, beantwortet Grjasnowa eine Zuschauerfrage in Stuttgart. „Aber die Stadt ist so anders geworden.“ Und noch ein Antwortversuch: „Nach der Schule wollte ich ganz schnell wegziehen aus der hessischen Kleinstadt. Und inzwischen denke ich wehmütig zurück an den Garten unserer Nachbarn damals mit einem großen, hässlichen Swimmingpool darin. Und inzwischen bin ganz eifersüchtig darauf.“

Der neunjährige Junge wird nach Petersburg verschleppt

Von Menschen zwischen vielen Kulturen handelten die ersten drei Romane Grjasnowas, aber eben von Menschen aus dem Hier und Jetzt. Warum nun plötzlich ein historischer Stoff, ein historischer Roman, fragt die Moderatorin des Abends, die Tübinger Slawistin Schamma Schahadat. „Ich wollte mich mit echten Fakten auseinandersetzen, nach geschichtlichen Tatsachen forschen“, antwortet die Autorin. Und führt den Leser prompt in das Jahr 1839, da das zaristische Russland im Kaukasus einen nicht enden wollenden kolonialistischen Krieg führt, um sich den Kaukasus und zum Beispiel die muslimischen Bergvölker Dagestans und Tschetscheniens einzuverleiben. Der legendäre Imam Schamil führt den Widerstand, wird aber derart bedrängt in einer Bergfestung, dass er mit den russischen Truppen verhandeln muss. Sie stellen für den Waffenstillstand eine Bedingung: Schamils Sohn Jamalludin soll eine Geisel sein. Und so verlässt der neunjährige Junge seine Familie, um die nächsten 16 Jahre am Zarenhof in St. Petersburg zu leben.

Und prompt sind wir bei aller zeitlichen und räumlichen Distanz wieder mitten in Grjasnowas Themenwelt, im Wechselspiel der Sprachen und Kulturen. Aus dem awarischen Kind wird ein russischer junger Mann – aber was, so fragt die Autorin, ist eigentlich russisch in einem Land, in dem der Hof vor allem französisch spricht und die Zarenfamilie eigentlich deutsch ist? Jamalludin wird nach und nach eine neue Sprache und Kultur zu schätzen lernen und sich doch stets nach der verlorenen Kultur sehnen. Als er aber nach vielen Jahren tatsächlich wieder zurückkehren kann in diese Heimat, hat er in der Zwischenzeit deren Sprache verlernt und; noch schlimmer, selbst Geruch und Geschmack ihrer Speisen sind ihm fremd geworden.

Sie kann russisch sprechen, aber nicht russisch schreiben

Die Autorin hat umfangreiche Studien für diesen Roman betrieben; am Ende des Buches findet sich eine umfangreiche Literaturliste. „Ich habe mich an die historisch bekannten Fakten gehalten“, erklärt sie im Literaturhaus, „aber ich habe diese Fakten natürlich interpretiert“. Ihre Geschichte, die sie ganz klassisch erzählt („wenn ich schon eine so seltsame Form wie den historischen Roman wähle, muss ich ja nicht auch noch experimentell schreiben“), handelt dann doch wieder von der Suche nach Identität.

Eine Suche, die nie zu einem wirklich sicheren Ergebnis führen kann. Von sich selbst sagt Grjasnowa: „Bis vor kurzem dachte ich von mir, ich sei multilingual, deutsch, russisch, englisch, französisch. Inzwischen glaube ich, dass ich doch monolingual bin.“ Und was ist dann doch ihre Hauptsprache, will eine Zuhörerin wissen. „Russisch.“ Kleine Pause. „Aber ich könnte nie einen Roman auf Russisch schreiben.“ Kultur entsteht aus Vermischung - wer kann noch daran zweifeln, wenn er eine Lesung mit Olga Grjasnowa erlebt!

Olga Grjasnowa: Der verlorene Sohn. Aufbau Verlag, Berlin. 361 Seiten, 22 Euro.