Wie geht es den Stuttgarter Jugendlichen? Hier eine Gruppe bei der Kinderspielstadt Stutengarten, einem Ferienprojekt der Stuttgarter Jugendhaus Gesellschaft. Foto: stjg

Silvia Rehm leitet das Kinder- und Jugendhaus Café Ratz in Untertürkheim, wo sie seit knapp 40 Jahren arbeitet. Sie erzählt, wie das Aufwachsen sich verändert hat.

Silvia Rehm hat meist die Bude voll. Unten in der Halle tobt gerade eine Schulklasse. Ein Spiel, das den Zusammenhalt stärken soll. Hier im Kinder- und Jugendhaus Café Ratz in Untertürkheim arbeitet Silvia Rehm seit fast vierzig Jahren mit jungen Menschen.

 

Frau Rehm, wie haben Sie die Stuttgarter Jugendlichen erlebt in Ihren ersten Berufsjahren?

In den 80ern und 90ern war interessant, dass man den Jugendlichen schnell ansehen konnte, wo sie sich zugehörig fühlten, ob sie zu den Fans der Black Music oder des Hip Hop zählten, der ja in Stuttgart eine große Rolle spielte, oder ob sie Punks waren. Man erkannte es an der Kleidung. Die Techno-Zeit fand ich stressig, das lief dauernd im Café. Ich bin tolerant, aber das ging mir an die Innereien. Und als die Punkbands in unseren Proberaum kamen, waren manche schockiert. Das hat sich aber schnell gelegt.

Gab es viele Konflikte zwischen den jeweiligen Gruppen?

Das kam vor, untereinander oder zwischen den Jugendlichen aus verschiedenen Stadtteilen, Hallschlag gegen Untertürkheim und so. Die City Boys, eine jugendliche „Rocker Gang“, waren ein- oder zweimal bei uns, das bedeutete meist Ärger. Wir hatten in den 80ern und 90ern freitags regelmäßig Discos mit 300 Leuten, da war immer irgendwas los.

Diese klar abgegrenzten Jugendgruppen beobachten Sie heute weniger?

Musikmäßig spielt der Deutschrap seit vielen Jahren bei unseren Besuchenden eine große Rolle, aber die Jugendkulturen sind heute durchlässiger. Es gibt nicht mehr nur die Punks oder die harten Hip-Hopper, die man sofort an ihrer Kleidung erkennt.

Silvia Rehm Foto: Manz

Wie erinnern Sie sich an den Alltag im Jugendhaus damals?

Zum meinen Anfangszeiten Ende der 80er Jahre war Computerarbeit mit Atari und C64 das große Ding, das konnte man bei uns ausprobieren. Und in den 90ern waren Konzerte wichtig. Damals gab es Kürzungen in der Jugendarbeit, und einige Engagierte haben ein großes Benefizkonzert, das „Jetzt knalltz“ im LKA, auf die Beine gestellt. Von den Einnahmen konnten wir unseren Probenraum einrichten. Und für die Jugendlichen damals war übrigens unser Festnetz-Telefon wichtig.

Warum das denn?

Es klingelte den ganzen Tag, Jugendliche wollten wissen: „Ist der und der da? Ist der Proberaum frei?“ Die größten Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte kamen mit Handy und Internet. Die Verabredungen liefen nun ganz anders, verschärft wurde das durch Smartphone und soziale Netzwerke.

Inwiefern verschärft?

Ein Beispiel: Wir mussten einen Streit zwischen zwei Jungs schlichten. Während Jugendliche einander früher ins Gesicht gebrüllt haben, zeigten sie uns jetzt ihre Handys: „Er hat das und das geschrieben.“ Der Streit fand rein digital statt. Da war es unglaublich schwer, das wieder ins normale Leben zurückzuführen. Und während früher nur eine Handvoll Leute von einem Streit erfuhr, ist der Kreis derer, denen Nachrichten weitergeleitet werden, heute viel größer. Dieses ständige Öffentlich- und Onlinesein hat etwas verändert.

Im Verhalten der Jugendlichen?

Teilweise verunsichert es, gibt ihnen aber auch Macht. Ich habe das Gefühl, viele Jugendliche sind heute hilfloser als früher. Und ihnen fehlt häufig das Bewusstsein dafür, dass das, was sie in die Welt senden, nie wieder eingefangen werden kann. Wir wollen das mit ihnen besprechen. Dabei geht es auch um Fragen wie: Wem kann ich vertrauen, wo finde ich richtige Informationen? Die sozialen Netzwerke können Jugendliche einsamer machen. Corona hat einen Teil dazu beigetragen. Es gibt auch Jugendliche, die gut klar kommen, aber insgesamt erlebe ich mehr Angst vor der Zukunft.

Wie merken Sie das?

Jugendliche sagen Dinge wie: „Es gibt doch sowieso keine Jobs.“ Oder: „Warum soll ich arbeiten? Ich bekomme ja eh nie eine Rente.“

Wie reagieren Sie darauf?

Wir versuchen Perspektiven aufzuzeigen, nehmen die Jugendlichen ernst, verändern den Blickwinkel und hören wirklich zu. Diese Gespräche werden mehr.

Sie sind also öfter nötig?

Der Beratungsbedarf durch uns nimmt zu. Wir machen keinen Druck, wir setzen Impulse, wir sind einfach da. Wichtig ist die Beziehung, die die Jugendlichen zu meinen Kolleginnen und Kollegen haben. Dass da jemand ist, der sie so nimmt, wie sie sind, der ihnen etwas zutraut. Für die Jugendlichen sind wir spannend, weil wir Erwachsene sind, sie uns aber duzen dürfen. Sie können an uns mal was ausprobieren, sich im Ton zu vergreifen zum Beispiel, ohne zu riskieren, einen Schulverweis zu bekommen. Es ist ein Übungsfeld, denn auch hier gibt es Regeln und Grenzen.

Findet an Orten wie dem Jugendhaus heute auch eine Durchmischung von sozialen Milieus statt?

Ja, das ist wie im Sportverein. Unterschiedliche Kulturen und Bildungsniveaus begegnen sich im Kinder- und Jugendhaus, spielen Fußball, sind zusammen an der Kletterwand.

Welche Rolle spielt die Herkunft der Jugendlichen?

Die Zeiten, als viele türkische und griechische Jugendlichen in festen Cliquen zu uns ins Haus kamen, sind vorbei. Heute ist es stark durchmischt. Eine Herausforderung für uns ist es, geflüchteten Familien zu erklären, welche Aufgaben Offene Kinder- und Jugendarbeit hat, dass Freizeit einen wichtigen Stellenwert in der Entwicklung ihrer Kinder hat. Viele Jugendliche stehen heute stärker unter Druck, egal welcher Herkunft

Wie merken Sie das?

Ich merke es zum Beispiel bei meiner Arbeit mit den Jugendräten. Wenn wir früher angeboten haben, für eure Besprechung im Rathaus können wir versuchen, euch morgens zwei Stunden von der Schule freistellen zu lassen, haben sie gejubelt. Heute sagen sie: „Nein, das geht nicht, ich kann nicht fehlen, sonst verpasse ich zu viel.“

Glauben Sie, Stuttgart tut genug für seine Kinder und Jugendlichen?

Wir haben es alle mit in der Hand, ob Kinder und Jugendliche bei uns in der Gesellschaft einen Platz finden. Die Verantwortung kann man nicht abgeben. Viele Erwachsenen leben den Jugendlichen genau diese Perspektive vor, fühlen sich schnell benachteiligt, geben der Politik für alles die Schuld. Wir wollen mit den Jugendlichen nicht schauen, was fehlt oder schlecht läuft, sondern ausloten, was sie gut beherrschen, was sie schaffen können. Stuttgart ist eine sehr kinder- und jugendfreundliche Stadt. Hier haben sie so viele Anlaufmöglichkeiten wie kaum anderswo. Aber Jugend findet auch draußen statt – und das ist manchmal nicht einfach.

Wieso?

Jugendliche wollen da sein, wo etwas los ist, wollen gesehen werden. Wir haben aktuell ein Projekt mit mehreren Stadtteilen, wo wir ausloten, was die Jugendlichen brauchen, um sich im Stadtteil aufhalten zu wollen, damit nicht immer alle in die Innenstadt fahren. Und was es braucht, damit sie von den Anwohnern akzeptiert werden. Vermüllung oder aktuell das Kiffen sind natürlich ein großes Thema. Jugendliche brauchen Raum.

Und an dem fehlt es trotzdem noch?

Wo dürfen sie denn auch mal Fehler machen? Lernen, mit Konflikten umzugehen oder etwas reparieren? Die Schule kann das nicht leisten. Die Familie sollte wichtig sein, aber da hat sich etwas verschoben.

Was hat sich verschoben?

Es wird immer nach den „Verantwortlichen“ gesucht. Die Schule kann das nicht alleine leisten. Einerseits traut man Kindern weniger zu, siehe Elterntaxi, andererseits steigen die Erwartungen an sie. Deshalb ist ein wichtiges Ziel unserer Arbeit, Kinder und Jugendliche stark und selbstständig zu machen.

Weitere Informationen

Silvia Rehm (59)
arbeitet seit 40 Jahren im Stuttgarter Kinder- und Jugendhaus Café Ratz in Untertürkheim, das sie leitet. Sie hat eine Ausbildung zur Erzieherin und ist systemische Coachin. Das Café Ratz gibt es seit 1977, es ist eine Einrichtung der gemeinnützigen Stuttgarter Jugendhaus Gesellschaft. Zielgruppen sind Kinder ab sechs Jahren, Jugendliche, junge Erwachsene bis 27 und Familien.

Träger
 Die Stuttgarter Jugendhaus Gesellschaft feiert in dieser Woche ihr 75-jähriges Bestehen. Sie zählt zu den größten freien Trägern der Kinder- und Jugendarbeit in Baden-Württemberg. An rund 100 Standorten in Stuttgart – darunter Jugendhäuser, Kindertagesstätten, Abenteuerspielplätze sowie Stadtteil- und Familienzentren – bietet sie verschiedene pädagogischen Angebote. In 41 Kinder- und Jugendhäusern und auf 22 Abenteuerspielplätzen und Jugendfarmen sind junge Menschen willkommen. Die stjg kooperiert mit Schulen im Rahmen der Schulsozialarbeit, verfügt über pädagogische Fachkräfteteams an Ganztags- und Gemeinschaftsschulen und ermöglicht Berufsorientierung im Übergang von der Schule in den Beruf. Als Träger von Kindertagesstätten sowie von Stadtteil- und Familienzentren möchte die stjg für Familien in der ganzen Stadt da sein.