Foto: Albers

Aus der Fußgängerzone direkt an den Fels. Das ist das alpine Flair Innsbrucks. Zum Beispiel auf Klettersteig-Klassikern.

Aus der Fußgängerzone direkt an den Fels. Das ist das alpine Flair Innsbrucks.

"Das ist lässig", sagt der Martin gern. Passt gut zu unserem Aufbruch. Mit klobigen Bergtretern an den Füßen und ausgebeulten Rucksäcken laufen wir über rote Teppiche aus dem Schwarzen Adler, einem der Innsbrucker Traditionshotels. Passieren den Prachtbau der Hofburg und mischen uns unter die Flaneure in der herausgeputzten Altstadt. Ganz zwanglos bewegen wir uns in dem hochschicken Ambiente. Denn eine knappe Viertelstunde später sind wir schon mitten in einer wilden Bergszenerie.

Städte in den Alpen gibt es etliche. Aber nur wenige haben den Fels sozusagen im Wohnzimmer wie Innsbruck. Fast direkt hinter dem Inn schießt die Nordkette knapp 2000 Meter in die Höhe, eine kilometerbreite Bastion, aus der die Gipfel herausragen wie die Zinnen einer Mauer. Martins Reich. Der 38-jährige Innsbrucker ist Bergführer. Ganz lässig hat er uns hier hoch gebracht. Mit der Hungerbergbahn, über deren Stationen sich die Amöbendächer der Stararchitektin Zaha Hadid schmiegen. Und mit der Seilbahn bis zur Gipfelstation Hafelekar. Ab jetzt ist Schluss mit der Gemütlichkeit. "Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich", ist auf Martins T-Shirt aufgedruckt. Goethe hat das gesagt. Die Nordkette ist kein Promeniergelände. Im Winter stürzen sich die Pulverschneejunkies steilste Felsrinnen hinunter, und auf uns wartet, nur ein paar Schritte von der Station, eine senkrechte Felsflanke. Ein Stahlseil zieht sich nach oben, Trittbügel sind eingemauert: Hier beginnt der Innsbrucker Klettersteig. Wir schlüpfen in die Klettergurte, Martin nimmt einen Klettersteig-Debütanten ans Seil, dann klicken wir die Karabiner in die Sicherungen und steigen auf. Schon bald lehnt sich die Wand zurück, wir kommen auf einen Grat. Links gucken wir direkt auf die Dächer von Innsbruck, rechts sehen wir die völlig siedlungsfreien Karwendeltäler und -gipfel, vor uns bizarre Kalkzacken, gekrönt von Kreuzen.

Innsbruck ist ein Ort der Bergsteigergeschichte. Hermann Buhl ist nur einer ihrer Namen. Auch unser Klettersteig ist ein alpiner Klassiker. 1986 hat Hannes Gasser ihn gebaut, ein Alpinist, Bergführer und Gründer der Alpinschule Innsbruck. Heute arbeitet Martin Reiter da, aber damals, als Jugendlicher, hat sein Vater ihn auf den neuen Steig mitgenommen. Martin war von der Tour begeistert und schrieb einen enthusiastischen Leserbrief über diese Via ferrata. Und bekam einen bösen Gegenleserbrief: Weder brauche es dieses fremde Wort noch überhaupt einen Eisenweg am Berg. So war das in den 80er-Jahren, als der Innsbrucker noch ein Pionierklettersteig war.

Wir kommen gut voran, klettertechnisch ist der Steig eher einfach. Aber er fordert Kondition: Immer wieder müssen wir in Scharten absteigen, durch die ein kalter Wind pfeift, und dann die vernichteten Höhenmeter gleich wieder anpacken. Gipfel um Gipfel überschreiten wir so, von der Seegrubenspitze bis zum Kemacher. Martin streut immer wieder kleine Tipps ein, etwa nach dem Einschmieren mit Sonnencreme: "Jetzt reibt euch Dreck in die Hände, sonst rutscht ihr das Stahlseil runter." Oder er öffnet die Augen für zunächst Unscheinbares wie den flachen Silberwurz: "Der legt seine Blätter über Felsen und bildet, wenn diese verrotten, seinen eigenen Humus. Das ist lässig, na?" Am nächsten Tag schwärmt Martin wieder: "Ein sagenhaft lässiger Fels." Wir sind in die Martinswand eingestiegen. Eigentlich sagt man das nur zu Kletterrouten. Aber auch dieser Klettersteig ist ein Klassiker, ebenfalls 1986 angelegt – und in seinem oberen Teil lange der schwerste der Alpen. Schon der untere Teil geht senkrecht den Fels hoch. Die Tritte sind klein und selten, oft muss man die Schuhe gegen die Wand pressen, die von unzähligen Vorgängern blank poliert ist. Abgespeckt, sagt der Kletterer. Auf einem schmalen Band ziehen wir uns die Bergstiefel aus und Kletterschuhe an. Ihre Gummisohle haftet besser. Etwas entspannter ziehen wir uns höher.

Stress in der Martinswand hatte schon Kaiser Maximilian. Das war der Habsburger, der Innsbruck zum Beispiel mit dem Goldenen Dachl aufpolierte. Maximilian kletterte mit Leidenschaft und schrieb detailliert nieder, was auf solchen Touren dabei zu sein hatte: ein Seil, ein Helm aus Eisen, die so genannte Hirnhaube, gegen Steinschlag und sechszackige Steigeisen. In seiner Jugend war Maximilian aber leichtsinniger und verstieg sich so in der Martinswand, dass er weder absteigen konnte noch nach oben weiter kam. Drei Tage und Nächte harrte er aus, unten bangte der Hofstaat, und schon rief man nach einem Priester, der den Todgeweihten segnete. Just in diesem Moment sei ein Jüngling erschienen und habe Maximilian aus der Wand geführt.

Manchmal braucht man solche Schutzengel. Wie die Frau, die vor uns in die Ausstiegsverschneidung steigt – die kniffligste Stelle. Steil, der Schwerpunkt ist seitlich vom Seil und belastet die Arme extrem, die Füße finden kaum Halt. Kurz bevor die Frau die Karabiner umhängen will, kann sie sich nicht mehr halten und stürzt mehrere Meter. Ein Bein hat eine Wunde bis auf den Knochen, die Frau, die in ihrem Klettersteigset hängt, verliert kurz das Bewusstsein. Martin hetzt hoch. Er ist Bergretter, bringt die Frau in dem senkrechten Gelände wieder zu sich und sogar die paar Meter hoch zu einer großen Höhle in der Wandmitte. Die hat Kaiser Maximilian vergrößern und mit einem Kreuz ausstatten lassen. Heute kniet dort ein Holz-Maximilian. Über einen Wanderweg kann man auch zu diesem Ausguck gelangen. Jetzt knattert erst mal der Heli an, fliegt die Frau ins Krankenhaus. Wir schnaufen durch. Nicht immer sind die Berge lässig.

Jetzt geht’s aufi!

Sie waren das exklusive Reich der Kletterer, die Lienzer Dolomiten. Jetzt führen auch Klettersteige auf die kühnen Gipfel Südtirols.

Unholden nähert man sich nicht so locker. Das merken wir schon nach wenigen Metern. Unter uns tobt der Wildbach, vor uns steigt eine Schlucht 1000 Meter auf. Also keuchen wir. Das ist der Eintrittspreis in die Lienzer Dolomiten. Aber er ist es wert. Nach guten zwei Stunden erklimmen wir eine letzte Felstufe und betreten die Almwiesen und Lärchenwälder eines grandiosen Felskessels. Im Kreis reihen sich Felsmauern, Zacken, Türme, Pyramiden, Grate aneinander. Still ist es hier oben. Anders als bei den Südtiroler Namensvettern sehen wir keinen Fahrweg in dieser Naturarena, keine Seilbahn, keine Siedlung. Nur diese jähen, steilen Felsen, so schwer zu erklettern, dass die Einheimischen sie respektvoll Unholde genannt haben. Helmut hat uns hierher gebracht. Ein Bergführer, so sehnig und agil, wie man halt wird, wenn man es sich sommers in den Nordwänden der Alpen gibt und winters in den Tiefschneerevieren des Arlbergs. Die Überhänge ringsum, Touren bis in den neunten Grad, hat er schon alle durchklettert. Uns lotst er nun durch Latschen und über Schuttfelder an den Felsfuß der Großen Gamswiesenspitze. Dort blinkt unser Weiterweg durch das zerfurchte Kalkgemäuer auf: ein Stahlseil, solide mit Metallankern in den Fels getrieben. In den vergangenen Jahren sind die Gipfel der Lienzer Dolomiten auch für Nicht-Kletterer zugänglicher geworden, durch etliche Klettersteige. Wir klicken unsere Karabiner in einen der schönsten ein – den Madonnensteig. Die große Felsnadel, die eine Ähnlichkeit mit einer Marienstatue hat, erkennen wir schon vom Einstieg aus. Durch Kamine, Verschneidungen und eine Hängebrücke erreichen wir sie, einen Kranz aus Diskokugeln, mit Seilen gesichert, hat man ihr um das Felshaupt gelegt.

Noch um eine Gratkante rum, eine steile Wand hinauf, dann sind wir fast auf 2500 Metern Höhe, auf dem Gipfelkamm der Großen Gamswiesenspitze. Helmut zählt sie uns auf, die Gipfel um das Lienzer Becken und die Schneeberge in der Ferne. Und lässt uns raten: "Warum ist hier auf dem Gipfel so viel Schutt?" Wasser? Frost? Nein, Blitze spalten den Stein, erklärt uns Helmut. Lauern die auch in den dunklen Wolken, die an der Nachbarkette hängen? Auf jeden Fall weht es kühl, und ein bisschen graupelt es auch. Wir machen also, dass wir weiterkommen und steigen in eine Scharte ab, zum zweiten Teil des Steiges auf die Kleine Gamswiesenspitze. Vor uns geht es senkrecht hoch, eine kompakte Felsplatte. Da sollen wir rauf? Es geht überraschend leicht. Wie bisher finden wir jede Menge Tritte und Griffe im Fels. Das Schlussstück ist eine fantastische Direttissima, gerade den Fels hoch. Einige Meter neben uns klettern, klassisch mit Seil, drei Frauen. Wir können ihr Tun nachempfinden. Ein optimaler Klettersteig, wenn man das Gefühl für den Fels genießen will.

Ein Lob also auch an Hansl Wibmer, dem wettergegerbten Wirt im Kerschbaumeralm-Schutzhaus. Das ist noch eine Hütte vom alten Schlag, die Gaststube ist von der Balkendecke bis zum Bretterboden ein Holzrefugium. Der Hansl hat den Kachelofen schon eingeheizt, als wir vom Klettersteig zurück sind. Und erzählt uns, wie er beim Bau darauf gedrungen hat, Höchstschwierigkeiten, wie sie momentan so beliebt sind in neuen Klettersteigen, hier wegzulassen: "Hier kriegt der Anfänger nie die Krise."

Aber eine satte Tagestour im hochalpinen Gelände sind die 1500 Höhenmeter schon. Das Kurzzeitvergnügen am Klettersteig haben wir am nächsten Tag. Am Talboden, wo der Galitzenbach sich in eine wilde Klamm gefräst hat, wartet Lisi Steurer auf uns. "A ganz a wilde Henn", hat der Helmut sie genannt, was Ausdruck höchsten Respekts ist, weil die 29-jährige Lienzerin eine der wenigen Frauen weltweit ist, die auch den neunten alpinen Grad drauf hat. Die sich Eisfälle hochpickelt, auf Expedition geht und am liebsten nur draußen zu Hause ist. Deshalb hat sie auch schon ihre eigene Alpinschule gegründet. Das passt gut zu ihr, weil sie ihre Begeisterung gern mit anderen teilt. Im Obergeschoss der Galitzenklamm klebt ein Holzsteg an den Felsen, ein Spazierweg für alle. Wir bleiben am Schluchtgrund, wo Strudel und Fälle toben und schäumen. Knapp darüber führt uns ein Stahlseil, nimmt dann die Senkrechte und lotst uns auch über zwei Brücken, wo die Füße nur auf einem Seil stehen und die schäumenden Wasser unter den Sohlen den Gleichgewichtssinn zusätzlich strapazieren. Die Schluchtwände sind glatt und teils leicht überhängend, Tritte eher klein. Der Steig geht heftig auf die Arme. Ächzend schieben und ziehen wir uns weiter. Lisi aber turnt gämsengleich um uns herum, gibt Tipps, lobt, muntert auf. Das Wasser übertönt alles, also haben wir uns auf Zeichensprache geeinigt. Mit der flachen Hand wackeln heißt: Ich komm nicht mehr weiter, ich brauche Hilfe. Aber am Ende gehen nur die Daumen hoch: alles bestens!

Info Klettersteige Innsbruck: Innsbrucker Klettersteig, Schwierigkeit bis C/D, rund 400 Höhenmeter, vier bis fünf Stunden; Kaiser-Max-Steig, erster Teil Schwierigkeit bis C/D, 200 Höhenmeter, zwei Stunden (trotz gleicher Bewertung wesentlich schwerer als der Innsbrucker Klettersteig!). Geführte Touren: Alpinschule Innsbruck, Telefon 0043/ 512/ 546000, HTTP://www.asi.at.

Klettersteige Lienzer Dolomiten: Madonnen-Klettersteig, Schwierigkeit bis C, mit Zu- und Abstieg acht bis neun Stunden, insgesamt 1500 Höhenmeter; Galitzenklamm-Klettersteig, Schwierigkeit bis C/D, 45 Minuten Kletterzeit, kein Zustieg. Geführte Touren: Alpinschule Bergstatt Lienz, Telefon 0043 / 6 64 / 9 96 27 37, http://www.bergstatt.at.

Allgemeine Auskunft: Innsbruck Tourismus, Telefon 00 43 / 51 25 98 50, http://www.innsbruck.info. Osttirol Werbung, Telefon 00 43 / 50 / 21 22 12, http://www.lienz-tourismus.at.