Mit ihrer Initiative für eine solidarische Landwirtschaft finanzieren 600 Stuttgarter den biologisch-dynamisch bewirtschafteten Reyerhof in Möhringen – und erhalten im Gegenzug Lebensmittel direkt von dort. Lena Steinbuch hat die Kooperation vor zehn Jahren mitbegründet.
Lena Steinbuch isst gern besonderes Gemüse: Von heimischen Äckern soll es kommen, biologisch und nachhaltig angebaut sein. „Leider habe ich selbst keinen Garten und auch keinen grünen Daumen“, sagt die 35-jährige Architektin, die im Stitzenburgviertel in Stuttgart-Mitte wohnt. Trotzdem ist ihr Gemüsefach im Kühlschrank stets gut gefüllt mit Feldfrüchten der Saison oder aus dem Lager, derzeit etwa noch Salat und Spinat – dank der Solidarischen Landwirtschaft Stuttgart. Die Initiative kooperiert mit dem biologisch-dynamisch bewirtschafteten Reyerhof in Möhringen. Immer mittwochs oder donnerstags bekommen die Abnehmer ihre Lebensmittel in Kisten direkt an einen der über 20 Verteilpunkte in der Stadt geliefert. Die Abholstellen für das Gemüse sind vielfältig: Von der Garage über den Hausflur bis zum Hinterhof ist alles dabei. „Jeder wiegt seinen Anteil genau ab, damit auch der, der zuletzt abholt, etwas bekommt“, erklärt Lena Steinbuch das auf Vertrauen basierende Verteilsystem.
„Es werden jedes Jahr mehr“
Vor zehn Jahren hat die Stuttgarterin die Initiative in der Landeshauptstadt zusammen mit einer Handvoll anderer Interessierter gegründet. Mittlerweile machen knapp 600 Stadtbewohner bei der Solidarischen Landwirtschaft mit. Im Großraum Stuttgart wirtschaften drei weitere Betriebe nach dem gleichen Modell. Deutschlandweit gehören knapp 400 Gärtnereien oder Bauernhöfe zum Netzwerk, davon über 40 in Baden-Württemberg. „Und es werden jedes Jahr mehr“, freut sich Lena Steinbuch, die in Weilimdorf aufgewachsen ist und ihre Diplomarbeit an der Universität Stuttgart über „Nahrungsmittelproduktion in der Stadt“ geschrieben hat. Auch vom Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz gab es Anerkennung für das besondere Modell: Aus dem Landeswettbewerb „Bestes Bio-Betriebskonzept Baden-Württembergs“ ging der Reyerhof 2021 dank der Kooperation mit der Solidarischen Landwirtschaft Stuttgart als erster Sieger hervor.
Das Risiko des Landwirts mittragen
„Die Vorteile des Modells liegen auf der Hand“, findet Lena Steinbuch: Für durchschnittlich 70 Euro im Monat erhalten die Verbraucher einen definierten Anteil der Ernte – und sichern so einem vielseitigen Hof am Rande der Landeshauptstadt das Überleben. Der Reyerhof wiederum kann sich verlässlich finanzieren – auch wenn die Ernte mal ausfällt, das Wetter Pilzerkrankungen begünstigt oder die Setzlinge von Schnecken aufgefressen werden. In den Anfängen sei es nicht leicht gewesen, einen Landwirt zu finden. „Wir haben uns sehr gefreut, dass Dorothea Reyer-Simpfendörfer und Christoph Simpfendörfer vom Reyerhof bereit waren, das Modell auszuprobieren.“ So sei es nicht jedermanns Sache, sich auf kompliziertere Abläufe einzulassen, und auch menschlich müsse es passen. Eine weitere Errungenschaft aus der Zusammenarbeit: Mit Hilfe der Solidarischen Landwirtschaft konnte die Nachfolgefrage geregelt werden, als die Hofbesitzer sich vor fünf Jahren zur Ruhe setzen wollten. Auf dem Reyerhof haben nun zwei Betriebsleiter die Verantwortung von den Reyer-Simpfendörfers übernommen. Durch die festen Einnahmen haben sie eine finanzielle Sicherheit auch für ihre Familien. „Das kann die Entscheidung für diesen Beruf erleichtern“, ist Lena Steinbuch überzeugt. Der Hof selbst ist seit 2016 als Genossenschaft organisiert.
Die Bieterrunde ist immer aufregend
Ihren Job als Architektin hat Lena vorerst aufgegeben. Ihre Arbeitszeit teilt sie auf zwischen Büroarbeit für den Reyerhof und Aktivitäten für die Solidarische Landwirtschaft. Sie koordiniert zwischen Hof und Abnehmern, organisiert die Mitgliederverwaltung und betreut die zahlreichen Arbeitsgemeinschaften von Öffentlichkeitsarbeit bis Finanzplanung. Ein besonderes Ereignis findet immer im Herbst statt: In der Vollversammlung stellt die Budgetgruppe den Plan für das kommende Jahr vor. Gleichzeitig macht sie einen Vorschlag, wie der durchschnittliche Monatsbeitrag aussehen könnte. „Die Bieterrunde ist immer aufregend: Werden wir damit das Budget zusammenbekommen?“, berichtet Lena Steinbuch. Der Leitsatz dabei: „Jeder soll so viel geben, wie er geben kann – der Angestellte vielleicht mehr als der Musiker, der während der Pandemie keine Auftrittsmöglichkeiten hatte.“ Oft brauche es mehrere Bieterrunden: „Aber es hat bisher am Ende immer geklappt.“
Ein fester Termin: Gemüse abholen
Andrea Hasselhoff ist mit Rucksack und Taschen unterwegs. Auf dem Rückweg von der Kita geht die 42-jährige Kommunikationsdesignerin seit Januar Donnerstag Nachmittag am Mauganescht vorbei, dem Abenteuerspielplatz am Hallschlag – und gleichzeitig einer der über 20 Verteilpunkte der Solidarischen Landwirtschaft in Stuttgart. Die gebürtige Oberpfälzerin holt dort ihren Anteil an Lebensmitteln ab. Der Möhringer Reyerhof hat ihn direkt geliefert. „Wir kommen gut klar mit dem neuen System“, berichtet Andrea Hasselhoff. Die Mutter von zwei Söhnen im Alter von vier und sechs Jahren ist auch als Sporttrainerin aktiv und macht derzeit eine Ausbildung als Ernährungsberaterin. Die direkte Anbindung an den Hof findet sie wichtig für die Kinder: „Sie sollen verstehen, woher das Essen kommt.“ Dass sie selbst vorab per Mail eine sogenannte Wunschliste zugesandt bekommt, anhand derer sie ungeliebtes Gemüse auch mal zugunsten von Beliebtem abwählen kann, findet sie gut: „Auch wenn ich es ehrlich gesagt manchmal vergesse.“ Mit der Auswahl an Gemüse der Saison, Brot oder Mehl und immer mal einem Kanister Apfelsaft oder ein paar Eiern ist die Oberpfälzerin im Großen und Ganzen zufrieden. „Aber ich muss schon auch zukaufen.“ Die winterlichen Standards wie Möhren, Kohlrabi, Weiß- und Rotkohl findet sie prima: „Ich koche gerne für meine Familie, und wir mögen Kohl.“ Auch mit heute eher unbekannten heimischen Lebensmitteln wie Navetrübchen oder Kohlrüben komme sie gut klar. Dass vom Schwarzkohl neulich kleine weiße Fliegen aufflogen, hat sie nicht gestört: „Ich habe die Blätter einfach gut gewaschen und mit Speckwürfeln zusammen zubereitet. Das hat uns allen super geschmeckt.“
Eine Tätigkeit, die erfüllend ist
Gemüse auch mal außerhalb der Norm
Gemeinsam mit zwei Betriebsleitern, drei Auszubildenden, Praktikanten und einem weiteren Gärtner baut Gerdo Jong auf dem Reyerhof Gemüse an. Der gebürtige Niederländer ist in einer Gärtnerei groß geworden. Seinen Job als Abteilungsleiter in einem international tätigen Unternehmen für Automatisierungstechnik hat der Elektrotechniker vor zwei Jahren gekündigt: Er wünschte sich eine Tätigkeit, die ihn erfüllt. Die Ernte liefert der 41-jährige gerne an seine Kunden: „Ich finde toll, dass unsere Arbeit von den Menschen geschätzt wird.“ Der Vater einer dreijährigen Tochter findet es dabei wichtig, nachhaltig zu wirtschaften. So achtet der Reyerhof auf eine sinnvolle Fruchtfolge und arbeitet in Kreisläufen, nutzt etwa eigenen Kompost und Mist von den hofeigenen Kühen. Dass in der Landwirtschaft vor allem das Wetter Risiken birgt, kennt Gerdo Jong aus der Familiengärtnerei in den Niederlanden, wo sein Vater auf konventionelle Weise Tulpen anbaute. Beim biologischen Anbau auf den Möhringer Äckern hat der Rosenkohl aktuell schon mal schwarze Flecken. „Manche Leute beschweren sich darüber. Wir können aber nur das liefern, was wir haben. Und wir wollen die Lebensmittel nicht wegwerfen, nur weil sie kleine Schäden haben.“ In seinen alten Job möchte Gerdo Jong nicht wieder zurück, auch wenn die Arbeit auf dem Hof anstrengender sei als man denke, im Winter bei Minusgraden etwa. Oder im Sommer, wenn die Sonne brennt.
Mithelfen auf Acker und Obstwiese
Wenn der Reyerhof die Teilnehmer der Solidarischen Landwirtschaft zu freiwilligen Hofeinsätzen einlädt, ist Silja Pfäfflin immer gern dabei: „Ich habe einen Bürojob. Da macht es mir Spaß, hier mitzuhelfen.“ Sie hat sich knallgelbe Ohrenschützer aufgezogen und schiebt Äste in einen dröhnenden Leih-Häcksler. Ein Dutzend Helfer ist zusammengekommen auf der Streuobstwiese am Kressart in Sonnenberg. Der Reyerhof hat das Areal von der Stadt gepachtet. In den Tagen zuvor haben Gerdo Jong und seine Kollegen rund 150 der insgesamt 450 Apfelbäume ausgeschnitten – und das Holz zu einem meterhohen Berg aufgetürmt. Der Saft, den der Reyerhof aus den Äpfeln von der Streuobstwiese herstellt, komme bei ihrer Familie sehr gut an. „Und auch die Äpfel zum Essen schmecken prima“ berichtet die Mutter von drei Kindern, die auch gern bei der Ernte im Herbst mithilft. Nach vier Stunden steht die Sonne tief. Der Haufen Schnittgut ist abgetragen und der Hänger voll beladen mit Holzschnitzeln. Reyerhof-Betriebsleiter Lukas Dreyer bedankt sich bei den Helfern. Silja Pfäfflin sieht ein bisschen müde aus – und zufrieden. Dann gehen alle ihrer Wege: die Städterin zum E-Bike und der Landwirt zum Traktor.
Wer Interesse daran hat, im kommenden Jahr bei der Solidarischen Landschaft Stuttgart dabei zu sein, der melde sich bitte per E-Mail an mail@solawis.de