„Einfach nur an der Tafel Formeln vorzutragen, bringt es allein nicht“, sagt Pisa-Chef Andreas Schleicher. Foto: dpa/Marijan Murat

Der Chef der Pisa-Studie, Andreas Schleicher, geht hart mit dem deutschen Schulbetrieb ins Gericht. Die Abläufe seien frustrierend, der Lehrermangel sei hausgemacht, sagt der OECD-Bildungsdirektor – und verrät im Interview, wie es aus seiner Sicht besser geht.

Zu schlecht bezahlt sind deutsche Lehrkräfte nicht, sagt OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Dennoch sei der Job in Deutschland unattraktiv, meint der Bildungsforscher. Es müsse sich einiges ändern.

Herr Schleicher, in Deutschland herrscht – quer durch die Berufe, besonders auch bei Lehrern – Fachkräftemangel. Was muss sich ändern, damit mehr Menschen Lehrer werden?

Geld verdienen die Lehrer in Deutschland genug. Finanziell ist der Beruf hier sehr attraktiv, auch und gerade im internationalen Vergleich. Aber auch ein gut bezahlter, sicherer Beamtenjob lockt die Menschen heute nicht mehr, wenn die Arbeitsbedingungen sonst nicht stimmen. Der Lehrerberuf ist in Deutschland intellektuell zu unattraktiv, und die Lehrer haben viel zu wenig die Gelegenheit, das zu tun, wofür sie eigentlich in den Beruf gegangen sind: nämlich jungen Menschen zu helfen, ihren Weg zu finden, und sie auf diesem Weg zu begleiten. Der Lehrermangel in Deutschland ist hausgemacht. Da muss sich viel ändern.

Das müssen Sie erklären. Was ist intellektuell unattraktiv am Lehrerberuf in Deutschland?

In deutschen Schulen geht es oft zu wie in einem Fastfood-Restaurant. Die Schülerinnen und Schüler sind häufig nur Konsumenten, die den Lernstoff serviert bekommen. Die Lehrer sind Servicedienstleister, die das vorgefertigte Essen aufwärmen und herüberreichen sollen. Eltern sind Kunden, die sich gelegentlich beschweren, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Diese Abläufe frustrieren alle.

Und wie müsste es eigentlich sein?

Lehrerinnen und Lehrer brauchen Freiräume, eigene Ideen zu entwickeln und kreative Unterrichtskonzepte zu erproben. Sie brauchen Gelegenheiten für den Austausch und für die gemeinsame Arbeit im Team. Nichts ist schlimmer als diese Kultur in Deutschland, dass man die Tür zum Klassenzimmer zumacht – und den Lehrer dort einfach nur alleinlässt. Und vor allem: Lehrkräfte brauchen, so ungewohnt es für viele in Deutschland klingt, auch Zeit für anderes, als immer nur zu unterrichten.

Was genau meinen Sie damit?

In Bildungssystemen, die erfolgreicher sind als das deutsche, kennen Lehrer und Schüler nicht nur ihren Unterrichtsstoff. Und sie wissen auch nicht nur darüber Bescheid, wie Schüler diesen Stoff lernen. Ein Lehrer kann vor allem dann viel erreichen, wenn er seine Schülerinnen und Schüler wirklich kennt – als Menschen, wer sie sind, und wer sie werden wollen. Diese Beziehungsarbeit ist das, was den Beruf wirklich effektiv und auch attraktiv macht. Wenn Sie Menschen fragen, warum sie Lehrer geworden sind, werden Ihnen die meisten sagen: „Ich wollte mit jungen Menschen arbeiten, wirklich an ihrer Entwicklung teilhaben.“ Einfach nur an der Tafel Formeln vorzutragen, bringt es allein nicht.

Lehrerkräfte werden jetzt applaudieren – und sagen: „Dafür gibt es aber einfach zu wenig Personal. Wir brauchen mehr Stellen, Schulen müssen besser ausgestattet sein.“ Haben sie recht?

Eine bessere Ausstattung und mehr Personal sind gut. Das müssen übrigens nicht nur Lehrer sein, sondern auch Sozialarbeiter gehören dazu. In Zeiten des Fachkräftemangels dürfen wir aber auch nicht so tun, als gäbe es unbegrenzt Personal. Es geht auch darum, die Lehrer besser einzusetzen. Dazu brauchen die Schulen mehr Freiheiten, sich selbstständig zu organisieren.

So werden aus einem Lehrer nicht zwei.

Nein. Aber warum soll es zum Beispiel nicht möglich sein, dass Frontalunterricht – der ja auch dazugehört – in größeren Gruppen abgehalten wird als in der üblichen Klassengröße? Oder, falls das räumlich nicht geht, auch digital. Und dafür gibt es dann an anderer Stelle die Zeit und die Möglichkeit, dass Lehrer intensiv persönlich mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten. Ich bin fest überzeugt, dass auch mit den vorhandenen Ressourcen viel mehr möglich ist. Jedenfalls, wenn Deutschland bereit ist, vom ewig gewohnten Schema abzuweichen.

Sie haben den digitalen Unterricht erwähnt. Ist Deutschland dafür nach der Coronapandemie nun besser aufgestellt als vorher?

Ja und nein. Die deutschen Schulen wären in einer Pandemiesituation jetzt besser dafür aufgestellt, Distanzunterricht zu machen. Die technische Ausstattung ist heute besser, die Lehrer haben mit digitalem Unterricht in einer solchen Krise mehr Erfahrungen gesammelt. Das, was wir bekämen, wäre aber wieder nur so, dass man versucht, einigermaßen stabil den üblichen Unterricht zu machen und dabei in die Kamera zu schauen. Mit digitalem Lernen hat das herzlich wenig zu tun.

Was muss digitales Lernen aus Ihrer Sicht leisten?

Es muss darum gehen, dass digital das stattfindet, was dort besser geleistet werden kann als im Klassenraum. Warum sollen Schülerinnen und Schüler einem Lehrer bei einem Experiment zuschauen, wenn sie es im virtuellen Laboratorium selbst machen können? Warum nutzen wir nicht mehr Lernprogramme, die sich automatisch an den Lernerfolg der Schüler anpassen? Und warum nutzen wir die Daten der Lernprogramme nicht, um Lehrkräften dynamisch zu zeigen, wie unterschiedliche Schüler unterschiedlich lernen, damit sie ihre Pädagogik entsprechend anpassen können? Diese Chancen müssen wir nutzen und dürfen dabei eines nie vergessen.

Nämlich?

Präsenzunterricht ist wichtig. Der direkte Austausch von Schüler und Lehrer ist durch nichts zu ersetzen. Das ist eine große Lehre der Pandemie.

In Deutschland ist in der Pandemie für Schülerinnen und Schüler sehr viel Unterricht ausgefallen. Werden wir das an den Pisa-Ergebnissen im kommenden Jahr erkennen?

Wenn Unterricht ausfällt, hat das natürlich Auswirkungen. In Deutschland hat es diejenigen besonders hart getroffen, die zu Hause nicht so gut gefördert werden können. Die Pandemie hat die Chancenungleichheit in der Bildung in Deutschland noch einmal erheblich verstärkt. Das werden wir auch in der Pisa-Studie erkennen. Deutschland muss jetzt seine Anstrengungen für die Schülerinnen und Schüler, die aus ärmeren und bildungsfernen Familien kommen, verdoppeln. Sonst nehmen diese Bildungskarrieren dauerhaft Schaden. Das ist unfair und schadet der gesamten Volkswirtschaft.

Auch für die Integration von geflüchteten Schülern fehlt nach Ansicht von Lehrerverbänden das Personal. Schaffen wir das trotzdem?

Das ist eine riesige Herausforderung. Anderen Ländern gelingt es besser als Deutschland, geflüchtete Lehrkräfte für diese Aufgabe miteinzubinden. Da muss Deutschland flexibler sein. Das deutsche Bildungssystem ist für die Bewältigung der Herausforderungen, die aus gesellschaftlicher Vielfalt – zum Beispiel durch Migration – entstehen, nicht optimal aufgestellt. Das macht sich jetzt noch mal stärker bemerkbar. Bei all dem sollten wir aber nie vergessen: Auch alle anderen Kinder und Jugendliche können davon lernen, wenn Geflüchtete an den Schulen sind. Das ist wirklich die Schule des Lebens.

Andreas Schleicher: Der Mann, der die Pisa-Studie entwickelt hat

Bildungsforscher
Andreas Schleicher hat Physik und Mathematik studiert. Als Statistikexperte arbeitete er früh an Bildungsstudien mit. Seit fast 30 Jahren arbeitet er nun als Bildungsforscher für die OECD in Paris.

Pisa-Studie
Schleicher hat bei der OECD die Pisa-Studie entwickelt. Bei diesem internationalen Bildungsvergleich geht es insbesondere um die Lesekompetenzen und mathematischen Fähigkeiten von 15-Jährigen geht. Der Schock über das schlechte Abschneiden bei der ersten Studie aus dem Jahr 2000 hat in Deutschland damals zu einer breiten Debatte geführt – und auch Reformen, etwa für mehr frühkindliche Bildung, mitausgelöst. In Deutschland war Schleicher damals für viele eine Reizfigur.

Kindheit
In der Grundschule wurde Schleicher von seinem Lehrer als „ungeeignet fürs Gymnasium“ eingestuft. Sein Vater, ein Professor für Erziehungswissenschaften, schickte ihn auf eine Waldorfschule. Dort legte Schleicher sein Abitur mit 1,0 ab.