Menschen ohne Wohnung können in kommunalen Unterkünften ihr Bett machen. Foto: dpa

Obdachlosigkeit kann jeden treffen. In vier Kommunen, darunter Korntal-Münchingen, helfen Sozialarbeiterinnen, dass es erst gar nicht so weit kommt. Was noch ein Experiment ist, soll dauerhaft etabliert werden.

Kreis Ludwigsburg - Ohne Elena Palagutin wäre Herr H. aus Korntal-Münchingen wohl obdachlos geworden. Er hat im vorigen Sommer eine fristgerechte Kündigung seiner Mietwohnung wegen Verkaufs der Immobilie unterschrieben. Als Herr H. in die offene Sprechstunde der Sozialarbeiterin kam, wusste er nicht mehr weiter. Vier Monate später bezog er im Stadtteil Münchingen eine neue Wohnung.

76 Menschen leben zurzeit in einer städtischen Unterkunft in Korntal-Münchingen. Allein 2017 haben 22 Leute ihre Wohnung in der Stadt verloren. Um Obdachlosigkeit zu verhindern, beschloss die Kommune vor zwei Jahren, an einem von Bund und EU geförderten Experiment teilzunehmen: Sie hat sich an der Fachstelle Wohnungssicherung (Fawos) für Menschen, denen die Obdachlosigkeit droht – angesiedelt bei der Wohnungslosenhilfe im Kreis Ludwigsburg – beteiligt. Das Präventionsprojekt startete im April 2016 auch in Ludwigsburg, Besigheim und Kornwestheim. Noch bis Jahresende fördern das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen mit fast 100 000 Euro unter anderem eineinhalb Sozialarbeiterstellen, die sich die Kommunen teilen. So wurde Elena Palagutin Korntal-Münchingens gute Seele.

„Bemerkenswerter Erfolg“

„Fawos füllt eine Lücke, vor allem für Familien. Bislang konnte die Wohnungslosenhilfe erst helfen, wenn jemand bereits seine Wohnung verloren hat, und dann auch nur Alleinstehenden über 18 Jahren. Nun können wir eingreifen, sobald jemand von Obdachlosigkeit bedroht ist“, sagt Elena Palagutin. Mit ihrer Kollegin Tamara Palmer berät die Sozialpädagogin Menschen aus allen Schichten, wie sie sagt.

Weil Fawos erfolgreich ist, hat Korntal-Münchingen entschieden, die Fachstelle dauerhaft zu etablieren. „Bis Oktober 2017 konnten wir elf Haushalte vor Obdachlosigkeit bewahren. Das ist ein bemerkenswerter Erfolg“, sagte der Fachbereichsleiter Michael Siegel im Gemeinderat. Das Gremium beschloss daraufhin einstimmig, dass Palagutin auch noch Hausbesuche machen, freitags im Korntaler Rathaus von 10 bis 12 Uhr ihre offene Sprechstunde abhalten oder bei Anträgen etwa für Darlehen bei Mietschulden helfen darf, wenn die finanzielle Förderung aus dem Hilfsfonds der EU endet. Herrn H. half die Sozialpädagogin dabei, eine E-Mail-Adresse einzurichten und die nötigen Dokumente für den künftigen Vermieter wie eine Schufa-Auskunft oder eine Bescheinigung über regelmäßige, rückstandslose Mietzahlungen einzuholen. Solche Unterstützung ist der Stadt Korntal-Münchingen künftig jährlich mehr als 15 000 Euro wert.

Kündigungsgründe gibt es viele

Eigenbedarf, Mietschulden, Krankheit: Kündigungsgründe gebe es viele, und sie könnten jeden treffen, sagt Palagutin. „Wichtig ist, dass wir Betroffene an die Hand nehmen können und ihnen ein fester Ansprechpartner sind.“ Schon der drohende Wohnungsverlust belaste, führe zu Resignation und Rückzug. Obdachlosigkeit drängt die Betroffenen an den Rand der Gesellschaft. Und sie verursacht in den Kommunen, die Obdachlose unterbringen müssen, auch hohe Kosten – zumal die Menschen oft jahrelang in einer Unterkunft bleiben. Experten zufolge fehlten Personal und Geld, um die Menschen mit psychosozialer Hilfe wieder zu motivieren. Knapper und teurer Wohnraum sowie Besitzer, die sich ihre Mieter aussuchen können, verschärfen die Situation. „Obdachlose und von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen haben einen schlechten Ruf und keine Lobby“, sagt Heinrich Knodel. Laut dem Leiter der Wohnungslosenhilfe im Landkreis Ludwigsburg gebe es nur in Nordrhein-Westfalen ein flächendeckendes präventives Hilfsangebot. „Bisher haben eher Großstädte solche Angebote“, sagt Knodel.

Vielleicht hat der Landkreis bald ein flächendeckendes Angebot: Auch Ludwigsburg und Kornwestheim finanzieren Fawos von 2019 an selbst. Besigheim will im Rahmen einer zweiten Förderrunde bis 2020 im Verbund mit rund 20 weiteren Kreiskommunen weitermachen. „Dies ist qualitativ etwas Neues und hätte auch Modellcharakter, weil nur so die Beteiligung kleiner Kommunen praktikabel umsetzbar ist“, sagt die Sozialarbeiterin Elena Palagutin. Laut Bundesministerium ist noch offen, ob dafür Gelder bewilligt werden.

Probleme mit Obdachlosigkeit unabhängig von Größe einer Kommune

Der Hemminger Bürgermeister etwa hofft auf eine positive Entscheidung. „Probleme mit Obdachlosigkeit hängen nicht von der Größe einer Kommune ab“, sagt Thomas Schäfer (CDU). In seiner Gemeinde sind derzeit 14 Menschen wohnungslos. Jedes Jahr kämen fünf bis acht Personen hinzu. „Auch wir sehen die Notwendigkeit, frühzeitig einzugreifen“, sagt Schäfer.

Jeder zweite Betroffene hat Mietschulden

Nachfrage steigt 2016 hat die Fachstelle Wohnungssicherung in den vier beteiligten Kommunen 111 Haushalte beraten, 2017 waren es mit 214 fast doppelt so viele. Zu diesen 325 Haushalten gehören 516 Erwachsene und 325 Minderjährige. Fast jeder Zweite hat oder hatte Mietschulden, ein Fünftel eine Kündigung wegen Eigenbedarfs. Im Schnitt kamen pro Monat 15,5 neue Haushalte hinzu. Bis Ende 2017 schlossen die Sozialpädagoginnen Elena Palagutin und Tamara Palmer 208 Fälle ab, davon gingen 160 positiv aus: 73 Haushalte konnten ihre Wohnung behalten, 87 sind umgezogen. Zugleich bekam die Fachstelle 126 Anfragen aus anderen Kommunen des Kreises, etwa neun aus Gerlingen. Sie hatten Pech, weil sie nicht an dem Projekt teilnehmen.

Zwei Hilfesysteme Städte und Gemeinden müssen Obdachlose in kommunalen Unterkünften unterbringen. Dazu müssen sie Gebäude in Schuss halten oder neue bauen und sie entsprechend ausstatten. Korntal-Münchingen hat etwa in der Siebenbürgenstraße einen Neubau für eine Million Euro errichtet. In Hemmingen entsteht noch dieses Jahr in der Hauptstraße für rund 1,5 Millionen Euro ein Gebäude für Wohnungslose und Flüchtlinge. Die Bewohner müssen Nutzungsgebühren zwischen 250 und 800 Euro zahlen, die aber nicht kostendeckend sind. Die Wohnungslosenhilfe im Landkreis Ludwigsburg kümmert sich um Obdachlose aus dem gesamten Kreis, speziell um Alleinstehende über 18 Jahre mit schwerwiegenden Problemen wie Langzeitarbeitslosigkeit, massiven Schulden, Sucht – oder allem zusammen. Derzeit betreut sie rund 216 Personen.