„Ich bin ja Steinmetz“:Vesperkirchen-Besucher Wolfgang M. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Seit 2009 lebt Wolfgang M. auf der Straße. Immer wieder kommt der 56-Jährige im Winter in die Leonhardskirche. Bedürftige bekommen in der Vesperkirche warme Mahlzeiten und können sich aufwärmen. Genauso wichtig sei aber auch die Gesellschaft, die man dort habe, sagt er im Interview.

Stuttgart - Herr M., seit wann sind Sie obdachlos?
Das weiß ich genau: seit dem 15. September 2009, das war ein Dienstag. Ich habe meine Sachen gepackt und meine Exfrau samt Wohnung verlassen.
Wieso das?
Unsere Beziehung war am Ende. Eigentlich bin ich gelernter Steinmetz, damals arbeitete ich aber als Fernfahrer: drei Wochen im Monat, die restliche Zeit habe ich nur relaxt. Irgendwann hat es einfach nicht mehr geklappt, auch finanziell nicht.
Woher wussten Sie von der Vesperkirche?
Mundpropaganda. Die Leute haben mir gesagt: Du bist obdachlos, da kannst du hin.
Und seit wann kommen Sie hierher?
Dieses Jahr bin ich schon die ganze Zeit da. Aber ich kenne die Vesperkirche schon lange. Das erste Mal war ich vor ungefähr drei, vier Jahren hier.
Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Ich habe das Gefühl, die Armut in Stuttgart ist seitdem größer geworden. Bedeutend größer.
Inwiefern?
Allein die vielen alten Menschen, die inzwischen zum Essen herkommen, weil sie zu wenig Geld dafür haben! Für mich ist das auch ein Produkt der Ellbogengesellschaft.
Wie gehen denn die Stuttgarter mit Obdachlosen wie Ihnen um?
Unterschiedlich. Es gibt Leute, die sind super nett und gehen offen mit dem Thema um. Aber es gibt auch Idioten, die einen beschimpfen oder sogar bespucken. In Stuttgart habe ich viele solcher Erfahrungen gemacht.
Woran liegt das?
Gerade hinter den schlechten Erfahrungen sehe ich vor allem gesellschaftliche Zwänge. Ich habe das Gefühl, Armut passt nicht in unsere Wohlstandsgesellschaft. Es wäre wünschenswert, wenn einige Gutbürger offener wären für ihre Mitmenschen.
Stuttgart ist eine wohlhabende Stadt. Warum ist die Vesperkirche dennoch notwendig?
Der Abstand zwischen Arm und Reich ist auch in Stuttgart sehr groß, und er hat in den vergangenen Jahren noch zugenommen. Die Vesperkirche war ursprünglich für Obdachlose gedacht, aber inzwischen müssen Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten hier Hilfe suchen.
Wie gehen die Gäste in der Leonhardskirche miteinander um, wie verbringen sie dort ihre Zeit?
Wir sprechen über Gott und die Welt. Weil so viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Schicksalen hier sind, erlaubt das einen Blick über den Tellerrand. Unterm Strich zählt aber die Gesellschaft, die man hier hat.
Gibt es auch Streit?
Klar gibt es auch Leute, die einen nerven. Aber eigentlich ist es immer lustig, hier zu sitzen, wir machen viele Späße. Aber es ist trotzdem immer der gegenseitige Respekt und auch das Vertrauen da.
Die Vesperkirche bietet neben den warmen Mahlzeiten aber noch mehr für ihre Gäste . . .
Kürzlich ist mir zum Beispiel ein Auto übers Bein gefahren, seitdem habe ich Schmerzen und humple leicht. Zum Glück gibt es hier eine medizinische Versorgung.
Was schätzen Sie auf zwischenmenschlicher Ebene an der Vesperkirche?
Es gibt unter den Mitarbeitern ganz viele liebe Menschen, die ich teilweise sogar persönlich kenne. Hier kann ich morgens kommen, meinen Kaffee trinken und mich aufwärmen. Es ist mir sehr wichtig, dabei neue Menschen kennenzulernen und mich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Bald kommt der Frühling, die Vesperkirche schließt. Was kommt dann?
Spätestens im Juni bin ich für eine Weile weg aus Stuttgart, dann fahre ich nach Südfrankreich. Dort habe ich Bekannte, die eine alte Kirche gekauft haben. Ich habe versprochen, ihnen beim Aufstellen einer Außenmauer zu helfen. Ich bin ja Steinmetz.