Der Austausch mit Schülern hat bei den Gästen aus Esslingen bleibenden Eindruck hinterlassen. Foto:  

Auch wenn die westukrainische Stadt Kamianets-Podilskyi bislang unversehrt geblieben ist, leiden viele Menschen unter den Auswirkungen des Krieges. Die Stadt Esslingen will konkret helfen und vereinbart eine Solidaritätspartnerschaft. OB Klopfer war vor Ort.

1627 Kilometer liegen zwischen dem Esslinger Marktplatz und dem Zentrum von Kamianets-Podilskyi. Und die Welt ist dort eine andere. Auch wenn die westukrainische Stadt bislang im Krieg unversehrt geblieben ist, bekommen die Menschen dort jeden Tag aufs Neue die Auswirkungen des russischen Angriffs auf ihr Land zu spüren. Rund 25 000 Geflüchtete suchen in Kamianets-Podilskyi Schutz vor dem Krieg – eine riesengroße Herausforderung für eine Stadt, die wie Esslingen rund 100 000 Einwohner zählt.

Viele Familien trauern um Angehörige – fast täglich hat Bürgermeister Mykhailo Positko die traurige Pflicht, Menschen zu würdigen, die im Krieg ihr Leben gelassen haben. Und dennoch hat der Esslinger Oberbürgermeister Matthias Klopfer viel Mut und Zuversicht gespürt, als er jüngst die westukrainische Stadt besucht hat. Die Stadt Esslingen hat eine Solidaritätspartnerschaft mit Kamianets-Podilskyi begründet, und der Esslinger Rathaus-Chef wollte sich zusammen mit seiner Beauftragten für Städtepartnerschaften, Katrin Radtke, vor Ort selbst ein Bild machen, was die Menschen dort am nötigsten brauchen.

Unvergessliche Eindrücke

Matthias Klopfer hat schon viele Partnerstädte besucht, doch eine Dienstreise wie diese hat er noch nicht erlebt. „Erst nach der Rückkehr ist uns so recht bewusst geworden, was wir dort erlebt und erfahren haben. Das sind Eindrücke, die man nicht vergisst. Wir sind verändert zurückgekommen.“ Nur wenige Minuten vor der Ankunft der Esslinger Mini-Delegation hatte es einen Luftalarm in Kamianets-Podilskyi gegeben, kurz nach der Abreise startete Russland eine neue Welle von Angriffen auf die Ukraine.

Und auch während des Aufenthalts war der Krieg allgegenwärtig: Menschen, die Angehörige verloren hatten oder nicht wussten, was in den Kriegswirren aus diesen geworden war. Verwundete, die im örtlichen Krankenhaus behandelt wurden, weil die Kliniken in Frontnähe zerstört sind. „Wir dürfen vor allem die Kinder nicht vergessen, die auf ihre Weise versuchen müssen, den Krieg für sich zu bewältigen“, appelliert Katrin Radtke. Und auch den Oberbürgermeister hat es beeindruckt, wie an den Schulen trotz allem weiter unterrichtet wird und wie sich Schülerinnen und Schüler dem für sie Unbegreiflichen stellen.

„Die Folgen des Kriegs für die Seelen der Menschen sind überall zu spüren“, hat Matthias Klopfer festgestellt. „Es gibt keine Familie, die nicht vom Krieg betroffen ist. Doch die Zuversicht und der Mut, die überall in der Stadt bei den Menschen zu spüren sind, haben uns tief beeindruckt. Alle sind überzeugt, dass die Ukraine den Krieg gewinnen und Mitglied der EU werden wird.“

Zuversicht in schweren Tagen

Obwohl der Krieg das Land im Griff hat, versuchen die Menschen, etwas Normalität zurückzugewinnen. Man sitzt im Café, trifft sich mit Freunden, auf einer Jugendfarm sollen Kinder für ein paar unbeschwerte Augenblicke vergessen, was der Krieg in ihren Familien angerichtet hat. Für dieses Jahr sind etwa 40 Festivals geplant. Und für die Zeit nach dem Krieg, von der alle überzeugt sind, dass sie kommen wird, liegen fertige Zukunftskonzepte für Wirtschaft, Tourismus und Kultur in der Schublade. „Es ist beeindruckend, wie viel die Menschen aus den begrenzten Möglichkeiten machen, die ihnen die aktuelle Situation gelassen hat“, sagt Katrin Radtke. Und der Esslinger OB zieht seinen Hut, wenn er sieht, wie es Kamianets-Podilskyi gelingt, 25 000 Geflüchtete unterzubringen: „Das muss man erst mal schaffen.“

Um die künftige Zusammenarbeit zu besiegeln, haben Matthias Klopfer und sein ukrainischer Amtskollege Mykhailo Positko eine Urkunde über die Solidaritätspartnerschaft unterzeichnet. Mindestens ebenso wichtig wie dieser offizielle Akt war es dem OB jedoch, aus erster Hand zu erfahren, was in Kamianets-Podilskyi konkret gebraucht wird – etwa bei der Feuerwehr, die derzeit die Hälfte ihres Personals für Einsätze an der Front abstellen muss und die auf ihrer Hauptwache für eine Stadt der Größe Esslingens gerade mal zwei Fahrzeuge älterer Bauart zur Verfügung hat. Klopfer möchte dem Esslinger Gemeinderat vorschlagen, zwei hiesige Einsatzfahrzeuge, die in absehbarer Zeit ausgemustert werden, nach Kamianets-Podilskyi zu schicken. Und auch die dortige Klinik soll durch Hilfslieferungen in ihrer schwierigen Arbeit unterstützt werden: Vieles, was im Esslinger Klinikum nicht mehr gebraucht wird, könnte in der Westukraine noch gute Dienste leisten.

Erste Hilfen bis zum Sommer

Die ersten Esslinger Hilfslieferungen sollen noch vor dem Sommer auf den Weg in Richtung Osten gebracht werden – wobei nicht alles in Kamianets-Podilskyi bleiben wird. „Die Menschen dort wissen am besten, was wo im Land am nötigsten gebraucht wird“, sagt Matthias Klopfer. „Unsere Hilfe ist ein wichtiges Zeichen der Solidarität, das vielen Menschen Zuversicht bringt.“

Kamianets-Podilskyi im Kurzporträt

Geschichte
 Kamianets-Podilskyi ist eine der ältesten Städte der Ukraine – die erste urkundliche Erwähnung datiert aus dem Jahr 1106. Über die Jahrhunderte hinweg wechselten immer wieder die Herrschaftsverhältnisse. Unter polnischer Herrschaft erhielt die Stadt im 14. Jahrhundert eine mächtige Festung, die bis heute das Bild prägt. Zeitweise gab es mehr als 30 Kirchen und Klöster vor Ort. Im Zweiten Weltkrieg ermordeten SS-Einsatzgruppen 1941 mehr als 23000 Juden in Kamianets-Podilskyi.

Die Stadt
 Kamianets-Podilskyi liegt in der Westukraine und zählt etwa 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Mit ihrer malerischen historischen Kulisse gilt die Stadt als beliebtes Touristenziel. Seit Kriegsbeginn haben etwa 25 000 Menschen aus den umkämpften Regionen Zuflucht gesucht.

Zukunft
Für die Zeit nach dem Ukrainekrieg hat Kamianets-Podilskyi bereits eine Zukunftsstrategie formuliert: Ziel ist es, verstärkt neben Touristen auch neue Investoren anzuziehen und gute Voraussetzungen für innovative Entwicklungen zu schaffen. Mit dem Projekt „Förderung des Wirtschaftswachstums in der Gemeinde Kamianets-Podilskyi“ sollen gezielt kleine und mittlere Unternehmen angesprochen werden. Derzeit wird an der Planung eines Industrieparks auf dem Gebiet der Stadt gearbeitet.