Als Leichtgewicht hat sich das Maskottchen Nürtiger erwiesen. Foto: Horst Rudel

Beim Nürtinger Silvesterwiegen haben die Menschen Solidarität bewiesen. Kommt die Hilfe bei den Bedürftigen an?

Eigentlich war alles wieder wie vor Corona: Die Honoratioren standen in der Stadthalle K3N Schlange, um den alten Brauch des Nürtinger Silvesterwiegens für einen guten Zweck aufleben zu lassen. Und mit jedem Gang zur Sackwaage füllte sich das Wiegekässle ein wenig mehr. Am Ende summierten sich die Wiegegebühren von jeweils fünf Euro und die Spenden der 85 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf 1500 Euro.

Jedes Jahr spenden die geladenen Nürtingerinnen und Nürtinger auf diese Weise am letzten Tag des Jahres für eine soziale Einrichtung – und das schon seit mindestens 190 Jahren. Diesmal sind die Spenden für die Nürtinger Tafel bestimmt, wo Menschen mit geringem Einkommen die Möglichkeit haben, günstig Lebensmittel einzukaufen.

Menschen mit wenig Geld brauchen Hilfe

Beim Silvesterwiegen ist es Brauch, dass die Gäste nach der launigen Rede des Oberbürgermeisters den Silvestervormittag bei Maultaschen, Kartoffelsalat, gepflegter Unterhaltungsmusik und ebensolchen Gesprächen harmonisch ausklingen lassen.

Andere Töne schlug dagegen Eberhard Haußmann an. Der Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbands Esslingen berichtete am Rande, dass sich vor den Tafelläden immer längere Schlangen bilden. Die Nachfrage nach günstigen Lebensmitteln sei so groß, dass Zeitkarten verteilt würden, damit nicht alle Wartenden gleichzeitig in die Tafeln kämen. Diakonie, Caritas und DRK betreiben im Kreis Esslingen sechs Tafelläden, die in Discountern und Supermärkten Lebensmittel abholen, die dort nicht mehr verkauft werden können.

Der gestiegene Bedarf führt aber nicht nur zu langen Warteschlagen, wie Haußmann berichtete, sondern auch dazu, dass die Tafeln ihre Aufgabe nicht mehr so erfüllen können wie gedacht, denn die Lebensmittel reichen nicht mehr für alle aus. Engpässe gibt es vor allem bei Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Zucker, Salz und Teigwaren. Neben der gestiegenen Anzahl der Kundinnen und Kunden macht Haußmann auch eine veränderte Strategie der Discounter dafür verantwortlich, denn diese verkauften seit bald eineinhalb Jahren Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abzulaufen droht, neuerdings immer häufiger selbst, anstatt sie an die Tafeln weiterzugeben. Die Schieflage in der Gesellschaft sei auch durch das neue Bürgergeld nicht aufzuheben, da es die Inflation nicht aufwiegen könne.

Der Gesellschaft droht die Schieflage

Auch die evangelische Dekanin Christiane Kohler-Weiß aus Nürtingen kennt die Lage der Menschen, die sich eher auf der Schattenseite des Lebens bewegen. Und da deren Zahl wachse, werden bei der diesjährigen Vesperkirche, die am 22. Januar beginnt, mehr Essen angeboten als in den Jahren zuvor, erklärte die Theologin. Außerdem soll eines von vier Gemeindehäusern im Rahmen der diakonieweiten Aktion Wärmewinter als Anlaufpunkt für alle dienen, die es sich nicht leisten können, zu Hause voll zu heizen.

Warme Worte für die engagierte Bürgerschaft

In der angenehm temperierten Nürtinger Stadthalle fand der Oberbürgermeister Johannes Fridrich zum Abschluss des Silvesterwiegens seinerseits warme Worte für das Engagement der Gäste, die sich in Politik, Vereinen, Schulen, Kultur und Behörden für die Belange der Menschen einsetzen.

Er gehe zuversichtlich ins neue Jahr und freue sich auf viele Begegnungen, sagte Fridrich außerdem und zählte die bevorstehenden Höhepunkte des neuen Jahres auf: Im April soll das Hölderlinhaus eröffnet werden, und das umgebaute Einkaufszentrum Nürtinger Tor harrt der Vollendung.