„Autisten“, „Geldkoffer stehen schon unter dem Tisch“: auf Facebook zielt Kritik manchmal unter die Gürtellinie. Foto: dpa

Mitarbeiter des Nürtinger Rathauses fühlen sich durch Kommentare in sozialen Medien und in Leserbriefen angefeindet.

Nürtingen - Carmen Speidel ist der Kragen geplatzt. „Wir seien ,verlogen‘, ,Autisten‘, ,nehmen von Investoren Geldkoffer entgegen‘, ,arbeiten hemdsärmelig‘, ,sind inkompetent‘, ,willkürlich‘ und ,manipulieren‘“, so zitierte die Hauptamtsleiterin im Nürtinger Rathaus jetzt im Gemeinderat aus Kommentaren in den sozialen Medien und in Leserbriefen. Carmen Speidel verwahrt sich gegen solche „beleidigenden“ Äußerungen und mahnt mit emotionalen Worten Zurückhaltung an: „Man kommt sich häufig wie der Prügelknabe vor“, klagte sie.

Hauptamtsleiterin sieht sich an den Pranger gestellt

Die Stadtverwaltung mit dem Oberbürgermeister Otmar Heirich (SPD) an der Spitze steht seit Monaten wegen umstrittener Pläne zum Bau eines Hotels am Neckar und weil an der Kreuzkirche Bäume gefällt werden sollen, praktisch unter Dauerbeschuss. Carmen Speidel ist es jetzt zu viel geworden. Die Rathausmitarbeiter seien „an Recht und Gesetz gebunden“ und setzten Beschlüsse des Gemeinderats um. „Dafür werden sie persönlich an den Pranger gestellt. Dies ist für viele von uns ehrlich gesagt nicht mehr auszuhalten“, klagte die Hauptamtsleiterin und fügte hinzu: „Zwischenzeitlich ist es so, dass immer mehr Personen dabei in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden. Nicht von ungefähr kommen Personalausfälle und die Zunahme von Erkrankungen, deren Ursache psychischer Natur ist.“

Die meisten Beispiele der genannten Kommentare beziehen sich auf die Pläne des Reutlinger Hoteliers Hans-Joachim Neveling, am Nürtinger Neckar ein Hotel zu bauen. Eine Bürgerinitiative lehnte die Planung wegen der Dimensionen ab, sie möchte ein großes Hotel an dieser sensiblen Stelle verhindern und sammelte in der rund 40 000 Einwohner zählenden Stadt 4701 Unterschriften gegen das Projekt.

Zu einem Bürgerentscheid kam es nach einem regelrechten Beschlusswirrwarr im Gemeinderat aber nicht. Unlängst gab es eine umstrittene Bürgerbeteiligung zur Zukunft des Neckarufers. Kritiker sehen darin den bloßen Versuch des Oberbürgermeisters und seiner Amtsleiterin Bärbel Igel-Goll, das Hotel auf einem Umweg zu verwirklichen.

Kritik an der Art der Bürgerbeteiligung

„Man hat es mit Autisten zu tun“, „Geldkoffer stehen unter dem Tisch“, „Willkür bei Bürgerbeteiligung ist kaum mehr zu überbieten“, hieß es unter anderem auf Facebook. Aus den Reihen der Bürgerinitiative (BI) gegen den Hotelbau monierte ein Leserbriefschreiber in der Lokalzeitung, das Rathaus habe bei der Abwehr des Bürgerbegehrens „tief in die juristische Trickkiste gegriffen“. Die Bürgerbeteiligung, bei der sich 30 zufällig ausgewählte Bürger stellvertretend für alle Nürtinger Gedanken über das Neckarufer machen sollen, werde „nach Heimwerkerart von der Verwaltungsspitze mit Hilfe der nachgeordneten Spitzenbeamtin Igel-Goll unter Rechtsaufsicht von Frau Speidel organisiert. Dies sind die Personen, die seit zwölf Monaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, dem Investor Neveling zum Grundstück zu verhelfen, indem sie jegliche Mitsprache der Bürger unterbinden und juristisch aushebeln.“

Auch eine gemeinsame Pressemitteilung der Fraktionen Nürtinger Liste/Grüne, SPD und NT 14 geht mit der Bürgerbeteiligung ins Gericht. In ihrer Erklärung richtet die so gescholtene Carmen Speidel an alle Nürtinger den dringenden Appell, „die Punkte, die auch in einer Klausurtagung des Gemeinderats erarbeitet wurden, nämlich ein respektvolles, wertschätzendes und wohlwollendes Miteinander zu pflegen, endlich umzusetzen“.

Bürgerinitiative wirft OB Heirich Bürgerferne vor

Am Montag hat dann die Bürgerinitiative mit einem offenen Brief reagiert. Carmen Speidels Erklärung weist sie als einen „verallgemeinernden Rundumschlag“ zurück. Von Facebook habe sich die BI „ferngehalten, weil uns klar ist, dass dort die Diskussionskultur nur sehr schwer kontrollierbar ist“. Rund um das Hotelprojekt seien „bis zuletzt zahlreiche Fehler“ gemacht worden. Diese müssten aufgedeckt werden dürfen. „Dies bezeichnen Sie dann als ,Respektlosigkeit‘ gegenüber der Verwaltung und ihren Mitarbeitern“, heißt es direkt an die Adresse von Otmar Heirich gerichtet. „Hier liegt Ihrerseits ein großes Missverständnis vor, denn Sie verwechseln Kritik mit Respektlosigkeit.“

Die BI geht noch weiter in die Offensive und wirft dem OB Bürgerferne vor. „In zahllosen Gesprächen am Infostand der BI auf dem Wochenmarkt mussten wir den Eindruck gewinnen, dass die Kommunikation zwischen der Nürtinger Verwaltungsspitze und Bürgern nicht funktioniert.“ Außerdem habe die BI „mit Sorge festgestellt, dass sich Mitarbeiter der Stadt aus Angst um ihren Arbeitsplatz nicht getraut haben, ihre Meinung zu äußern oder am legitimen Mittel eines Bürgerbegehrens teilzunehmen, wie sie uns selbst mehrfach mitgeteilt haben. Dies lässt den Schluss zu, dass im Rathaus ein Klima der Angst herrschtund Kritik gar nicht mehr bis zu Ihnen durchdringt“, kontert die BI in Richtung Otmar Heirich.