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20-Jährige verlor bei Vorführung Gleichgewicht und stürzte fünf Meter in die Tiefe.

Nürtingen - Beim Sturz vom Trapez hat in Nürtingen eine Zirkusartistin schwere Verletzungen erlitten. Im Zirkus Piccolo war die 20-Jährige fünf Meter tief auf den Boden geknallt. Die Artistin, die Tochter des Zirkuschefs, ist außer Lebensgefahr. Unfälle kommen immer wieder vor - das Risiko tragen die Artisten selbst.

Es geschah am Dienstag in der Nachmittagsvorstellung vor den Augen von etwa 60 Besuchern und der Eltern. Etwa in der Mitte des zweistündigen Programms stürzt die Trapezkünstlerin Alexandra ab. Ein Sicherungsnetz gab es nicht.

"Alle haben geschrieen", sagt am Tag danach Alex Riedesel, der Vater der Artistin und Direktor des Zirkus Piccolo, der sich bei seinem jährlichen Gastspiel in Nürtingen "Der Nürtinger Weihnachtszirkus" nennt. "Ich habe noch versucht, sie aufzufangen", sagt der Zirkuschef. Doch alles sei viel zu schnell gegangen.

Was war passiert? Die Vorstellung begann wie jeden Tag um 16 Uhr. Gegen 17 Uhr war Alexandras Akrobatikshow hoch oben in der Kuppel dran. "Es geschah ganz am Anfang ihrer Nummer", sagt ihr Onkel Raimon Frank. Bei einer Figur, die unter Fachleuten Fahne heißt, hat die Artistin einen Fuß im Trapez einhängt und hält sich mit einer Hand fest. Das andere Bein und ein Arm schwingen frei nach unten. Die Artistin ist in diesem Augenblick weder durch ein Netz noch mit einer Fangleine gesichert. Plötzlich rutscht Alexandra mit dem Fuß ab. Die Schwungkräfte sind so groß, dass sie sich auch mit der Hand nicht mehr halten kann. Die Artistin stürzt fünf Meter tief in die Manege. Über den Asphaltuntergrund liegt nur eine dünne Schicht mit Sägemehl.

Die Zuschauer reagieren mit einem Aufschrei. Aus der Nase der Artistin läuft Blut. "Ich dachte, sie hat einen Schädelbruch", sagt Raimon Frank. Nach einer Untersuchung im Kreiskrankenhaus stellt sich der Unfall aber als nicht so schwerwiegend heraus. Die verunglückte Frau hat sich ein Bein ausgekugelt, ein Handgelenk gebrochen, eine Sehne ist gerissen. Auch ein Stück Zahn ist abgebrochen. Nach dieser Diagnose atmet Alexandras Familie auf: "Es wird nichts zurückbleiben", sagt Mutter Monika. Heute wird die junge Frau zur Sicherheit noch mit Computertomografie untersucht.

Neues Kostüm ist rutschiger

Eine Erklärung für den Unfall kann die Familie zunächst nicht liefern. Nach Auskunft der Eltern arbeite die Tochter seit ihrem achten Lebensjahr am Trapez. Die artistische Figur Fahne gehöre dabei zu den leichtesten Übungen. "Wenn es schwerer wird, klinkt Alexandra eine Sicherheitsleine ein, die man nicht sieht", sagt Raimon Frank. Bei dieser Übung halte das jedoch niemand für notwendig. "Vielleicht war sie unkonzentriert", mutmaßt Alex Riedesel. Die einleuchtendste Erklärung hat die Mutter: "Alexandra hat ein neues Kostüm, und ich fand die Stulpen an den Stiefeln von Anfang an glatt." Nur einmal vorher hat sie sie getragen, sonst trug sie immer griffigere Wildlederstiefel. Vermutlich ist Alexandra das neue Outfit zum Verhängnis geworden.

Jetzt hadert sie mit ihrem Schicksal. Nicht wegen der Verletzungen, sondern weil sie in der Vorweihnachtszeit nicht liegen will. "Sie hat immer die ganze Dekoration gemacht, das fehlt ihr jetzt", sagt die Mutter. Außerdem vermisst sie die Manege. Schwester Janine wird nun einspringen - alle Vorstellungen gehen wie geplant weiter, sagt Monika Riedesel.

Zirkusunfälle kommen immer wieder vor. So stürzte im vergangenen Jahr beim Weltweihnachtszirkus auf dem Cannstatter Wasen ein Artist aus der Schweiz beim Aufwärmen in der Pause vom Trapez acht Meter in die Tiefe. Er erlitt Hand- und Fußverletzungen und musste operiert werden.

Im November 2005 kam es auch bei der Dinner-Show Palazzo auf dem Pariser Platz in Stuttgart zu einem Unfall. Aus vier Metern Höhe fiel eine amerikanische Trapezartistin auf den Bühnenboden und erlitt mittelschwere Verletzungen.

Zu weiteren Zirkusunfällen kam es 2002 und 1998 bei Zirkusvorstellungen in Böblingen und Stuttgart.

"Zirkusartistik ist kein Bürojob", sagt Patrick Rosseel, der Regisseur des Weltweihnachtszirkus, der gerade zum 18. Mal auf dem Cannstatter Wasen gastiert. "Die Artisten arbeiten live und mit kalkuliertem Risiko." Beim Weltweihnachtszirkus, bei dem ausgewählte Spitzennummer unterschiedlicher Zirkusunternehmen gezeigt werden, habe grundsätzlich "jeder Artist sein eigenes Sicherungssystem". Verwendet werden entweder Sicherungsseile oder ein Netz. "Wir kontrollieren das Material." Gelegentlich müssten Kabel und Karabinerhaken ausgetauscht und Netze ausgebessert werden.

Bis zum kommenden Sonntag gastiert der Zirkus Piccolo noch auf dem Festplatz in Nürtingen-Oberensingen, vom 26. Dezember bis 9. Januar dann als Fellbacher Weihnachtszirkus beim Max-Graser-Stadion. Wahrscheinlich ist Alexandra dann schon wieder dabei - wenn auch nicht als Akteurin.