Ordner des baden-württembergischen NSU-Untersuchungsausschusses: Den Abgeordneten enthielt der landeseigene Verfassungsschutz Dokumente zum Ku-Klux-Klan vor. Foto: dpa

Am Donnerstag, 18. Februar, diskutieren die Abgeordneten des Landtages den Bericht, den ihre Kollegen zum Abschluss ihrer Recherchen zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) geschrieben haben. Etwa ein Jahr beschäftigten sich elf Parlamentarier in einem Untersuchungsausschuss mit den Fragen, welche Verbindungen die Mitglieder der mutmaßlichen Terrorgruppe nach Baden-Württemberg hatten, mit Fragen zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn, dem rassistischen Ku-Klux-Klan sowie dem Selbstmord des Neonazi-Aussteigers Florian Heilig im September 2013. Reporter unserer Zeitung haben den 997 Seiten umfassenden Report, die Protokolle der Sitzungen des Untersuchungsausschusses sowie die ihnen vorliegenden Ermittlungsakten aus dem Verfahren gegen Beate Zschäpe und ihre mutmaßliche Unterstützer ausgewertet. Ihr Ergebnis: In seiner Absolutheit sind etliche Feststellungen des Ausschusses nachweisbar falsch.

Eine Analyse von Franz Feyder, Sven Ullenbruch und Michael Weißenborn.

Wer war in Heilbronn?

Das Nachrichtenmagazin „Stern“ berichtete Ende 2011, der Heilbronner Polizistenmord sei möglicherweise von US-Geheimdiensten beobachtet worden, die – zusammen mit baden-württembergischen Verfassungsschützern – zeitgleich in Heilbronn eine Zielperson aus der islamistischen Szene beobachtet hätten. Für den NSU-Untersuchungsausschuss ist gesichert, „dass sich am Tattag lediglich ein Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz in Heilbronn, nicht jedoch zur Tatzeit auf der Theresienwiese befand. Das ergab sich durch die Befragung des betreffenden Mitarbeiters, des Zeugen Volker L., sowie der Zeugin Beate Bube.“

Verfassungsschutz-Präsidentin Beate Bube sagte dem Ausschuss: „Es gab nie irgendwelche Erkenntnisse, dass es außer diesem Herrn L. andere Mitarbeiter gab, die an diesem Tag irgendwo in Heilbronn dienstlich unterwegs gewesen sind.“ L. sagte dem Ausschuss, dass er erst nach der Tat in Heilbronn gewesen sei. Der Ausschuss folgt diesen Aussagen: Auch wenn L. zwangsläufig nicht wissen kann, was alle seine Kollegen an diesem Tag gemacht haben. Letztlich ist die Aussage der Geheimdienst-Chefin das einzige Beweismittel der Abgeordneten für ihre Feststellung, die laut Abschlussbericht ausdrücklich „gesichert“ sein soll.

Im digitalen Zeitalter arbeitet Baden-Württembergs Verfassungsschutz mit Papier

Was die Arbeitsweisen im Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) anbelangt, sind dem NSU-Untersuchungsausschuss Enthüllungen gelungen: 30 Mitarbeiter seien eine Woche lang damit beschäftigt gewesen, Ordner durchzublättern, um einen Teil der Akten aufzuspüren, die für den Ausschuss von Interesse hätten sein können. Ein ebenso aufwendiges und fehleranfälliges Unterfangen, das die erfolgreiche Arbeit des Inlandsgeheimdienstes insgesamt infrage stellt. Für den Landtags-Ausschuss kein Grund, dies in seinem Abschlussbericht zu kritisieren. 

„Das Auffliegen des NSU-Trios und seine entsetzlichen Verbrechen haben mich persönlich und natürlich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LfV tief schockiert“, sagte Verfassungsschutz-Präsidentin Beate Bube im November 2015 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss. „Von Anfang an stand die Frage im Vordergrund: Was können wir, können wir überhaupt etwas zur Aufklärung beitragen?“

An dieser Fragestellung hat sich nichts geändert, wenn auch die Vorzeichen inzwischen andere sind: Nach der Aussage der Verfassungsschutzchefin ist unklar, was Baden-Württembergs Geheime in Sachen NSU konkret überprüft haben. Es könnte sogar sein, dass sie wichtige Akten vernichtet haben. Das Vernichtungsverbot für alle Dokumente zum Thema Rechtsextremismus trat nämlich nicht im November 2011 nach dem Auffliegen des NSU in Kraft, sondern erst sieben Monate später im Juli 2012. Für Bube war zwar klar, „dass Akten mit Bezug zum NSU nicht vernichtet werden“, aber verbunden mit der Einschränkung, „so es denn im November solche Akten überhaupt gab oder die definiert gewesen wären“.

Definitiver Ausschluss mit Unsicherheitsfaktor

SPD-Obmann Nikolaos Sakellariou wollte von der obersten Verfassungsschützerin wissen, ob ihre Mitarbeiter innerhalb des halben Jahres ohne Vernichtungsmoratorium Rechtsextremismus-Akten schredderten.  „Das fällt mir schwer, das jetzt sozusagen mit der notwendigen Detailtiefe beantworten zu können“, antworte Bube und räumte ein, dass „immer wieder auch in kleineren Umfängen durchaus mal Aktenvernichtungen“ vorgenommen worden seien. „Aber soweit ich informiert bin, gibt es keine Aktenvernichtungen, die hier tatsächlich nur annähernd eine Relevanz haben können“, betonte die Geheimdienst-Chefin: „Insoweit würde ich das mit dem gewissen Unsicherheitsfaktor hier definitiv ausschließen können.“ Ein definitiver Ausschluss mit einem „gewissen Unsicherheitsfaktor“ – eine unsichere Sicherheit.

Der Grüne Alexander Salomon hakte nach: „Wie konnten Sie in diesem Zeitraum bereits beurteilen, ob ein Aktenstück relevant oder irrelevant ist für die NSU-Thematik?“ Bube nach wiederholtem Nachfragen: „Aber selbstverständlich war klar, was relevant war: Die relevanten Personen, die eben damals bekannt waren.“ Welche das waren, blieb jedoch unklar. Salomon wollte wissen, ob es „Vorgaben“ gegeben habe, „auf welche Personen und Sachverhalte bei der Aktensichtung geachtet werden“ müsse. Bube antwortete ausweichend: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Vorgaben gab.“

Es bleibt die Erkenntnis: Unterlagen zu Rechtsextremisten, die erst ab Sommer 2012 ins Blickfeld der NSU-Ermittler gerieten, können demnach vernichtet worden sein.

Auch die parlamentarischen NSU-Aufklärer geben in ihrem Abschlussreport „zu bedenken, dass die personellen Querverbindungen des NSU in verschiedene Bundesländer zum Zeitpunkt Sommer 2012 noch nicht abschließend ermittelt waren“. Trotzdem meinen sie gleichzeitig feststellen zu können: „Beim Landesamt für Verfassungsschutz gibt es keine Anhaltspunkte, dass seit Bekanntwerden des NSU bezogen auf den Fallkomplex NSU Akten vernichtet und/oder personenbezogene Daten in Dateien gelöscht wurden.“ Faktisch weiß das Gremium nicht, was im ersten Halbjahr 2012 vernichtet wurde.

Geheimdienst im Blätterwald

Nicht nur bei der Frage, was vernichtet wurde, tut sich der Geheimdienst schwer. Dem Landesamt bereitet es auch große Mühe, nach Dokumenten zu suchen, die nicht vernichtet worden sind. Im Dezember 2011 und Januar 2012 hat Präsidentin Bube von bis zu zehn Leuten etwa 3500 Aktenordner durchblättern lassen. Als später der Bundestags-Untersuchungsausschuss des Bundestages Informationen zu Achim Schmid, dem Gründer der „European White Knights of the Ku-Klux-Klan“ (EWK KKK) anforderte, setzte Bube noch mehr Leute ein: „Die Fragen konnten nur beantwortet werden im Rahmen einer händischen Aktensichtung von einer Arbeitsgruppe von rund 30 Mitarbeitern.“ Diese Ermittler hätten eine Woche lang nach dem Namen Achim Schmid gesucht.

Trotzdem stellten Baden-Württembergs Abgeordnete im Sommer 2015 fest, dass ihnen mindestens ein Dokument vorenthalten worden war, in dem auch Achim Schmid genannt wurde – und damit die Verfassungsschützer Akten zum Ku-Klux-Klan (KKK) nur unvollständig geliefert hatten. Dadurch, kam die Geheimdienst-Präsidentin knapp vier Jahre nach dem Auffliegen des NSU auf die Idee, die Rechtsextremismus-Akten könnten auch eingescannt werden, um sie so elektronisch nach Namen und anderen Stichworten durchsuchen zu können.  Nach ihrem Urlaub im Oktober 2015 habe sie „gleich gesagt“, dass die Behörde „gar nicht umhinkommen“ werde, „alles einzuscannen“, sagte sie während ihrer Einvernahme vor dem Ausschuss – „um  sozusagen auch sicher die Dinge aufzufinden, die gesucht werden“.

Unsicheres Suchsystem

Das heißt, dass die Verfassungsschützer bisher nicht sicher gefunden haben, nach was sie gesucht haben. Was bedeutet das für die NSU-Aufklärung? Die Abgeordneten haben diese Frage in ihrer Beweiswürdigung weder aufgeworfen noch beantwortet.

Vor diesem Hintergrund wird allerdings auch klar, dass die Verfassungsschützer nicht die Aufklärungsarbeit behindern wollten, als sie dem Untersuchungsausschuss anfangs nur Papierakten geschickt haben – sie hatten selbst nichts anderes.  Das Landtags-Gremium war aber zufrieden: Statt Kritik bedachten die Abgeordneten ihre Schlapphüte im Abschlussbericht mit Lob für die späte Akten-Digitalisierung: „Der Ausschuss begrüßt die Bemühungen des Landesamtes für Verfassungsschutz, zeitnah den Gesamtbestand zu digitalisieren, weil dies aus Sicht des Ausschusses für die Arbeit des LfV von Vorteil ist.“ Als „positiver Nebeneffekt“ werde dadurch „die nachträgliche Kontrolle der Arbeit des Verfassungsschutzes“ möglich.

Roland S. - Neonazi und V-Mann

Bei der Kontrolle des Verfassungsschutzes könnten all die Fragen aufgegriffen werden, die frühere oder amtierende Behördenvertreter vor dem Untersuchungsausschuss nicht beantwortet haben.

Ein Beispiel betrifft den – inzwischen verstorbenen – Rechtsextremisten und LfV-Spitzel Roland S.. Er kaufte kurz nach dem Auffliegen des NSU den Patria-Versand, ein Szene-Unternehmen. Die Firma erhielt offenbar als einzige Szene-Adresse eine Bekenner-DVD des NSU. Danach gefragt, ob das LfV diesem Vorgang überprüft habe, sagte Beate Bube: „Soweit ich unterrichtet bin, sind wir den Fragen, die durch jüngste Presseveröffentlichungen und sonstige Veröffentlichungen aufgeworfen wurden, nachgegangen.“ Diese jüngsten Veröffentlichungen stammten jedoch aus dem Jahr 2015 – verkauft worden war der Versand um die Jahreswende 2011/12.

Ein zweites Beispiel: In ihrem Jahresbericht 1999 berichteten die LfVer über Gewaltaufrufe von Rechtsextremisten im Internet. Einzelne waren sogar mit Kopfgeldern in Höhe von 10000 und 15000 Mark verbunden. Das erinnerte den Abgeordneten Salomon an die 10000-Liste, die Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) aus den Namenslisten zusammengestellt haben, welche in der Zwickauer NSU-Wohnung gefunden wurden: Ermittler glauben, dass es dabei um eine erste Erfassung möglicher Ziele der mutmaßlichen NSU-Terroristen handeln könnte. Ob die Erkenntnisse aus dem Jahr 1999 rückwirkend auf einen NSU-Bezug hin überprüft worden sind, wusste Präsidentin Bube nicht.

Sukzessive Erinnerung

CDU-Obmann Matthias Pröfrock wunderte sich, dass die Verfassungsschützer 2012 ein halbes Jahr brauchten, bis sie einen Zusammenhang zwischen einem mutmaßlichen Geheimnisverrat in ihrer Behörde und einer LKA-Anfrage zum Thema „Ku-Klux-Klan“ herstellten. Bei dem Geheimnisverrat ging es um eine Informationsweitergabe an KKK-Chef Achim Schmid, bei der LKA-Anfrage um den Gruppenführer Michèle Kiesewetters, der früher Mitglied in Schmids Klan-Truppe war. Bube bestätigte dem Christdemokraten, dass sie zwischen diesen Themen zunächst einmal keinen Zusammenhang sah: „Das musste ja von Mitarbeitern erst mal sozusagen erinnert werden: Da ist was. […] Dieser Zusammenhang, der ergab sich dann eben sukzessive und wurde dann erst später mit dem Innenministerium kommuniziert.“

Darüber hinaus gab 1997 einen Waffenfund in Baden-Württemberg, den der Nachrichtendienst in seinem damaligen Jahresbericht unter der Überschrift „Rechtsextremistischer Terrorismus“ aufgriff: „Am 9. Oktober 1997 beschlagnahmte die Polizei bei Hausdurchsuchungen in Geislingen und Horb zehn funktionsfähige Handgranaten, mehrere tausend Schuss Munition und zahlreiche Waffenteile. Der Beschuldigte unterhielt Kontakte zu einigen militanten Rechtsextremisten in Sachsen, mit denen er mehrmals gemeinsam in die Schweiz gefahren war, um dort Waffen zu besorgen.“ Das erinnert zumindest an die Waffenbeschaffung des NSU, soweit sie bis heute ermittelt werden konnte.

Was aus dem damaligen Ermittlungsverfahren geworden ist und ob ein NSU-Bezug bestehen könnte, wusste der damalige Verfassungsschutz-Präsident Helmut Rannacher bei seiner Vernehmung vor dem Ausschuss nicht: „Aber dass es in all den Jahren zahllose Waffenfunde, Gewehre, Munition bis hin zu Sprengstoff gegeben hat, ist jedes Jahr protokolliert worden.“ Sind diese Dokumente bei der behördlichen NSU-Aufklärung berücksichtigt worden? Dem jetzt abtretenden NSU-Untersuchungsausschuss lagen sie nicht vor. Das ist ein Thema für den nächsten Untersuchungsausschuss.