Szene aus „Die Opfer – Bitte vergesst mich nicht“ Foto: WDR Presse und Information/Bildk

Unter dem Titel „Mitten in Deutschland: NSU“ zeigt die ARD am 4. April einen Programmschwerpunkt zu den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds. Der in Stuttgart aufgewachsene Züli Aladag steuert den Spielfilm „Die Opfer – Vergesst mich nicht“ bei

Herr Aladag, wie haben Sie reagiert, als Sie zum ersten Mal vom Terror des NSU erfuhren?
Als der NSU im November 2011 aufflog, war das für mich genauso ein Schock wie für die meisten anderen wohl auch. Offiziell sind seit der Wende über 220 Menschen aus fremdenfeindlichen Motiven umgebracht worden, und die Dunkelziffer ist sicher noch viel höher. Das waren aber in der Regel eher Taten im Affekt, beziehungsweise wurden sie als Totschlag gewertet. Dass Migranten von Neonazis umgebracht werden, war also nichts Neues. Neu war, dass diese Morde organisiert von einer terroristischen Untergrundorganisation verübt worden waren, und das scheinbar unbemerkt.
Welche Folgen hatte das für Sie persönlich?
Ich bin mit einem relativ stabilen Glauben an die Demokratie in Deutschland aufgewachsen. Ich liebe Deutschland aus vielen Gründen. Ich bin dem Land auch für Vieles dankbar, unter anderem für die Möglichkeiten, die meine Familie, meine Geschwister und ich hier hatten, dass wir uns hier entwickeln konnten. Insofern habe ich immer einen positiven Blick auf Deutschland gehabt. Entsprechend haben mich die Ereignisse damals sehr erschüttert. Obwohl ich Filmemacher und politisch kritisch eingestellt bin, habe ich so etwas nicht für möglich gehalten.
Was genau macht für Sie den Skandal aus?
Dass es offenbar diesen Reflex gab, einen ausländerfeindlichen Hintergrund dieser Morde jahrelang für ausgeschlossen zu halten. Dadurch stellen sich Fragen über Fragen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass das alles ohne jegliches Wissen von Sicherheitsdiensten geschehen konnte.
Wie haben Sie versucht, Antworten auf Ihre Fragen zu bekommen?
Ich habe unheimlich viel zu dem Thema gelesen, alles Mögliche, was es gab. Ich habe versucht zu verstehen. Dieses Bedürfnis hatten wir wohl alle. Doch angesichts dieser vielen Puzzlestücke, der Akten, die vernichtet wurden, angesichts all der Aussagen von Zeugen und V-Leuten bleibt bisher vor allem der Eindruck, dass wir es hier mit einem Riesenskandal zu tun haben und dass wir vermutlich nie die komplette Wahrheit über diesen Fall erfahren werden.
Wie wurde aus Ihrer Beschäftigung mit dem Thema ein Spielfilm?
Zunächst war mir nicht klar, ob ich etwas dazu machen würde, wie so ein Film aussehen könnte. Es hat mich tatsächlich erst einmal nur als Mensch und Bürger beschäftigt. Dann habe ich 2012 einen Film mit der Produzentin Gabriela Sperl gedreht, die Culture-Clash-Komödie „300 Worte Deutsch“. Das war ein halbes Jahr nach dem Auffliegen des NSU-Terrors, und wir haben viel über dieses Thema gesprochen. Sie hatte den unbedingten Drang, ein Projekt dazu machen zu wollen und ich habe mich von ihr überzeugen lassen.
Ihr Film „Die Opfer – Vergesst mich nicht“ ist Teil des von Gabriela Sperl initiierten ARD-Schwerpunkts „Mitten in Deutschland: NSU“. Ist ein Spielfilm überhaupt ein geeignetes Mittel, um Zeitgeschichte zu dokumentieren?
Es sollte schon klar bleiben, dass ein Spielfilm etwas völlig anderes leistet als ein Dokumentarfilm. Deswegen wird im Rahmen dieses Schwerpunktes ja neben den drei Spielfilmen, die die Ereignisse aus drei verschiedenen Perspektiven erzählen, auch ein Dokumentarfilm von Stefan Aust und Dirk Laabs gezeigt. Ich wollte durch die Arbeit an meinen Film selbst mehr erfahren und der gesellschaftlichen Bedeutung dieser Ereignisse eine Form geben.
Wie kam es dazu, dass Ihr Drehbuch auf der Basis des Buches „Schmerzliche Heimat“ von Semiya Simsek, der Tochter des ersten NSU-Mordopfers Enver Simsek, entwickelt wurde?
Wir haben dieses Buch gelesen, und Gabriela Sperl hat die Verfilmungsrechte an ihm relativ früh erworben. Es war klar, wir werden auch einen Film aus der Opferperspektive erzählen, deswegen hat es Sinn gemacht, bei Enver Simsek anzusetzen. Das Buch wurde eine Grundlage für uns, um uns den Charakteren zu nähern und um die Zeitspanne der Geschehnisse erzählen zu können. Schließlich ist Semiya am Anfang ein 14-jähriges Mädchen und am Ende eine 24-jährige Frau.
Der Film beginnt mit einem ganz normalen, fast idyllisch wirkenden Arbeitsalltag des Blumenhändlers Enver Simsek.
Uns war es wichtig, dass er in diesem Film auf diese Weise auftaucht. Dass es da einen Draht gibt zwischen ihm und seiner Tochter, eine sehr starke Liebe. Auch wenn die Geschichte der Simseks sehr spezifisch ist, sind die Familien der anderen Opfer doch durch sehr ähnliche Prozesse gegangen. Ich wollte den Stoff emotional erzählen, authentisch, detailgetreu, glaubwürdig und klar.
Es fällt auf, dass in Ihrem Film die Medien kaum vorkommen. Es werden nur ein paar Zeitungsartikel mit einem Foto von Enver ŞSimsşek gezeigt.
Das haben die Zeitungen wahrscheinlich auch nur vom offiziellen Zeugenaufruf der Polizei abfotografiert. Mehr gab es aber auch nicht. Für die Geschichte der Opfer und der Hinterbliebenen hat sich damals kaum jemand interessiert.
Warum?
Sich in die Perspektive von Opfern hineinzuversetzen ist wohl keiner Mehrheitsgesellschaft angeboren. Dafür muss man Formen schaffen – künstlerische wie soziale.
Wäre es auch denkbar, dass ein rechtsradikaler Hintergrund der Morde zunächst nicht in Betracht gezogen worden war, weil die Ermittler sich das einfach nicht vorstellen konnten?
Es gab sicher den Reflex, diese Möglichkeit von sich weg zu halten, nicht zuletzt, weil wir immer in die Verlegenheit geraten, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontiert zu werden.
Als Erklärung für das Versagen der Behörden reicht das allerdings kaum aus.
Ich bin kein Verschwörungstheoretiker. Egal, ob es sich um 9/11 handelt oder um die NSU-Affäre, die Wahrheit ist immer komplexer als die Verschwörungstheorie. Aber wenn soviel vertuscht wird, wenn Menschen nicht aussagen dürfen, wenn Akten vernichtet werden, öffnet das Verschwörungstheorien Tür und Tor. Letzten Endes glaube ich, dass die mangelnde Aufklärung mit der Angst vor einem schlechten Ansehen Deutschlands im Ausland zu tun hatte.
Wie kommen Sie darauf?
Die ersten Anschläge der NSU, von denen wir wissen, ereigneten sich noch in der Bewerbungsphase zur Fußball-WM 2006. Zur Zeit der gezielten Morde hatte Deutschland dann schon den Zuschlag als Gastgeberland erhalten, aber parallel gab es Berichte über die sogenannten „No-go-Areas“. Diese Weltmeisterschaft war ein wichtiges Event, um ein modernes, offenes Image Deutschlands zu prägen. Wäre in ihrem Vorfeld aufgeflogen oder auch nur als Verdacht öffentlich geworden, dass drei Terroristen durchs Land fahren und morden, wäre das Projekt WM massiv dadurch beeinflusst worden.
Wäre es wichtig für Sie zu wissen, welche Rolle Beate Zschäpe wirklich gespielt hat?
Natürlich. Es wäre für uns alle wichtig. Die Frage ist, ob wir unserem Rechtsstaat vertrauen können, unserem Verfassungsschutz. Ob wir der Politik vertrauen können. Bestand die NSU nur aus diesen drei bekannten Leuten? Es ist ja bei der Gerichtsverhandlung schon herausgekommen, dass es zumindest einen viel größeren Unterstützerkreis gab. Es gibt widersprüchliche Aussagen von Verfassungsschutzbeamten, ab wann auch in Richtung Rechtsextremismus ermittelt worden sei. In all dem liegt ganz viel Unbequemes, daher glaube ich auch nicht, dass wir endgültige Antworten bald erfahren werden.
 

Info: ARD-Schwerpunkt zum Thema NSU

Mit Christian Schwochows Spielfilm „Die Täter – Heute ist nicht aller Tage Abend“ startete die ARD am Mittwochabend einen Programmschwerpunkt zu den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds.

Am kommenden Montag, 4. April, ist um 20.15 Uhr Züli Aladags „Die Opfer – Vergesst mich nicht“ zu sehen. Am kommenden Mittwoch, 6. April, folgt, ebenfalls um 20.15 Uhr, Florian Cossens Spielfilm „Die Ermittler – Nur für den Dienstgebrauch“ mit Anna Maria Mühe als Beate Zschäpe.

Im Anschluss an den Spielfilm am 4. April präsentiert die ARD die Dokumentation „Der NSU-Komplex – Die Jagd auf die Terroristen“ von Stefan Aust und Dirk Laabs.

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) bezeichnet eine im November 2011 öffentlich bekannt gewordene rechtsextreme terroristische Vereinigung, der nach bisherigen Erkenntnissen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe angehörten. Eigene Recherchen unserer Zeitung: unter www.stuttgarter-nachrichten.de/nsu-prozess. (StN)