Der Film „Die doppelte Lücke“ macht betroffen. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Die Stuttgarter Stadträte und Jugendräte schlagen für die Erinnerung an die NS-Zeit im Rathaus einen Gestaltungswettbewerb vor.

Ins Rathaus verirren sich junge Leute eher selten. Das macht einer der Stuttgarter Jugendräte in der Diskussion darüber klar, wie und wo eine doppelte Gedächtnislücke über die NS-Zeit an diesem Ort gefüllt werden kann. Denn die Jahre von 1933 bis 1945 finden hier nicht statt. Kein Gedenken an die Opfer, kein Hinweis, dass es zwischen den Oberbürgermeistern Karl Lautenschlager (bis 1933) und Arnulf Klett (ab 1945) einen NS-willfährigen Karl Strölin gegeben habe. Mit dem Projekt „Die doppelte Lücke“ will Harald Stingele vom Lern- und Gedenkort Hotel Silber diese „bemerkenswerte Leerstelle nach 89 Jahren endlich füllen, um neue Impulse zur Aufarbeitung der NS-Zeit im Stuttgarter Rathaus zu geben“. In die Realisierung wollen Stingele und die Gemeinderäte vor allem auch die jungen Leute vom Stuttgarter Jugendrat mit einbeziehen, die auf Einladung von Andreas Winter von Bündnis 90/die Grünen mit Stadträtinnen und Stadträten verschiedener Fraktionen im Rathaus darüber diskutieren. Ein Ergebnis: Um Jugendliche mit diesem Thema zu erreichen, dürfe die historische Aufarbeitung nicht allein im Rathaus stattfinden.

Zwölf Jahre Unrecht und Verbrechen

Nur elf Minuten: Mehr braucht der Regisseur Christian Wernernicht, um zwölf Jahre Unrecht und Verbrechen am Beispiel eines einzigen Schauplatzes, dem Stuttgarter Rat-haus, eindringlich darzustellen. Sein Film „Die doppelte Lücke“ führt die gnadenlose Konsequenz vor, mit der die Nationalsozialisten auch hier vom 8. März 1933 an innerhalb weniger Tage die Macht übernommen haben. Mindestens 173 Menschen werden Opfer dieser Zerstörung der Demokratie. Die meisten verlieren ihre Existenz, andere ihr Leben. Wie Emy Brüll und Emilie Levi, zwei der entlassenen jüdischen Mitarbeiter, die später ermordet werden. Und wie der Gemeinderat Heinrich Baumann, der als Kommunist in Dachau inhaftiert und im Februar 1945 ermordet wird. Nach ihm ist eine Straße im Stuttgarter Osten benannt.

Plädoyer dafür, den Film in den Schulen zu zeigen

„Es ist wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist und wie schnell sie zerstört werden kann“, ist die einhellige Meinung der jungen Leute, die den Film als „ergreifend und erschütternd“ bezeichnen und selbst dann noch fassungslos reagieren, wenn sie ihn wie in dieser Gesprächsrunde zum wiederholten Male sehen. „Ich sehe den Film auch zum dritten Mal und bekomme immer noch Gänsehaut“, sagt die Stadträtin Sibel Yüksel (FDP) und bekennt, dass sie nichts über diese zwölf Jahre an diesem Ort wusste. Nicht anders geht es dem Jugendrat Leo Staritzbichler, der deshalb deutlich dafür plädiert, diesen Film in Schulen zu zeigen, um daraus zu lernen. „Wir reden in der Schule oft über die NS-Zeit“, sieht Yvonne Akuoko hier eigentlich kein Defizit, stellt aber trotzdem die fehlende Konsequenz fest: „Es gibt leider hier immer noch demokratiefeindliche Strukturen.“ Jugendrat Bruno Wagenblast fordert daher, mehr Geld in die politische Bildung an Schulen zu investieren. „Die Demokratie ist fragil“, pflichtet Stingele bei.

Konsens im Gemeinderat

Dass die doppelte Lücke gefüllt werden muss, darüber herrscht im Gemeinderat Konsens, seit der Film am 27. Juli 2021 erstmals in der Vollversammlung gezeigt wurde und große Zustimmung fand. Nun soll er an einer dafür geschaffenen Medienstation im Rathaus gezeigt werden. „Hoffentlich im Erdgeschoss und in Dauerschleife“, hat Regisseur Christian Werner dazu verständliche Wünsche. „Am besten draußen auf dem Marktplatz“, geht Yvonne Akuoko noch weiter. Weil, wie gesagt, das Rathaus nicht gerade ein Hotspot ist. Aber der Film ist nur ein Baustein des Projektes. Wie geht es weiter?

„Der Film braucht eine historische Vertiefung“, fordert Luigi Pantisano (Linksbündnis), Stadtrat Jürgen Sauer (CDU) kann sich einen Atlas der Erinnerung vorstellen, in dem die vorhandenen Gedenkorte aufgeführt sind. Thorsten Puttenat (Puls) plädiert für eine Form der „dauerhaften und provozierenden Erinnerung“ und von den Jugendlichen kommt die Anregung, mit QR-Codes digitale Mittel einzusetzen. Vorstellungen und Wünsche, auch von den Jugendräten, sollen die Basis für einen Gestaltungswettbewerb unter Künstlern sein. „Es eilt nicht“, macht Stingele klar. „Aber die Lücke muss gefüllt werden.“