Der Graue Bus, ein „Transportmittel der Erinnerung“, gedenkt der ermordeten Kranken im Zentrum für Psychiatrie Weissenau Foto: SWR

Wie können KZ-Gedenkstätten, Museen und Initiativen dem Rechtspopulismus begegnen und junge Menschen erreichen? Eine Gruppe von Machern in Oberschwaben hat ihr eigenes Ideenlabor gegründet.

Weissenau/Stuttgart - Wie ist es gewesen in den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945? Das könnte den Zwanzigjährigen in diesem Land keine Schautafel und kein Dokumentationsfilm besser erzählen als die Urgroßeltern, die das miterlebt haben. Bloß: Die Zeitzeugen, die ja oft auch Geschichtsvermittler in ihren Familien waren, leben überwiegend nicht mehr. Mehr noch: Eine ganze Reihe Ehrenamtlicher im Land, die nach dem Zweiten Weltkrieg Erinnerungsstätten ins Leben gerufen und geführt haben, sind mittlerweile selber im Rentenalter. Sie wollen aufhören und suchen Nachfolger.

Gedenkorte, Museen und Initiativen, die sich mit den Schrecken der NS-Herrschaft und des Widerstandes beschäftigen, stehen vor existenziellen Fragen: „Wir stehen an der Schwelle vom kollektiven Gedächtnis zum kulturellen Gedächtnis“, sagt Sibylle Thelen, die Leiterin der Abteilung „Demokratisches Engagement“ bei der Landeszentrale für politische Bildung.

Das allein wäre genug für ernste Selbstbefragungen bezüglich der Zukunftsfähigkeit ehemaliger, zum Museum hergerichteter KZ-Außenstellen, früherer Tötungsorte wie Schloss Grafeneck oder Stolperstein-Initiativen. Dass Erinnerungsarbeit, wenn sie wirken soll, wenigstens die Authentizität der Originalschauplätze benötigt, wenn schon die Zeitzeugen fehlen, dass sie nicht zentralisiert dargeboten werden kann, darüber besteht kein Zweifel. Der politische Rechtsruck in Europa, der grassierende Nationalismus, das Erstarken der rechtspopulistischen AfD, deren Vorsitzender Alexander Gauland die Zeit des Nationalsozialismus als einen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnete, erhöht die Spannkräfte der Geschichtsbewahrer zusätzlich. Die „Grenzen des Sagbaren“ in Deutschland scheinen sich zu verschieben – so nimmt es auch Sibylle Thelen wahr.

Was die anderen tun, ist oft unklar

Der aus Berlin stammende Arzt und Medizinhistoriker Thomas Müller ist nicht fürs Beobachten und Abwarten. Seit elf Jahren ist der Ulmer Universitätsprofessor Leiter des von ihm begründeten Forschungsbereichs für Geschichte der Medizin. Sein Büro hat er im mit der Universität assoziierten Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Ravensburg-Weissenau. Ein Ort, von dem aus während der NS-Zeit annähernd 700 als lebensunwert abgestempelte Menschen in den Tod geschickt wurden. Der 53-jährige Wissenschaftler Müller, der auch noch das Württembergische Psychiatriemuseum mit Standorten in Zwiefalten und Bad Schussenried leitet, ist beruflich viel rumgekommen in seinem Oberschwaben. Sein Fazit: „Ich hatte den Eindruck, dass diejenigen, die sich mit dem NS beschäftigen, die Arbeit der anderen nicht genau kennen.“

So lud Müller, im Privaten Sportler und Dauerläufer, eine ganze Reihe von Machern kürzlich aufs Gelände des altehrwürdigen Klosters von Weissenau zu einer internen Arbeitstagung ein. Oswald Burger war beispielsweise dabei, der Leiter der Dokumentationsstätte Goldbacher Stollen in Überlingen, Charlotte Mayenberger, der Kopf des Freundeskreises „Juden in Buchau“, Michael Niemetz vom Laupheimer Museum für Christen und Juden, Franka Rößner und Thomas Stöckle von der Gedenkstätte Grafeneck, Sibylle Thelen aus Stuttgart oder Nicola Wenige vom Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm. Zwei Tage lang haben sie debattiert und nachgedacht. Am Ende standen erste Beschlüsse zur Stärkung der Erinnerungsarbeit in Südwürttemberg – pragmatische und solche, die zunächst Vision sind. „Uns ist klar geworden, dass für die heute 20-Jährigen was passieren muss“, sagt Müller.

Grübeln über neue digitale Angebote

Zu Buche steht an erster Stelle die Absage an jeden Konkurrenzgedanken: Museen, Gedenkstätten und Erinnerungsorte sollten künftig in ihren Räumen auch auf die Existenz der anderen hinweisen. Der Austausch didaktischer Konzepte, das Lernen voneinander, zum Beispiel was die Ansprache und den Umgang mit Behindertengruppen in den Ausstellungen anbetrifft, soll vorangebracht werden.

Als besonders wertvoll erachteten die Teilnehmer die Erforschung und Präsentation regional relevanter Biografien, sowohl von Opfern als auch von Tätern. Außerdem sollen die Auftritte der Gedenkorte im Internet verbessert werden. Es reiche nicht, so Müller, dass Detailinformationen als PDF heruntergeladen und ausgedruckt werden könnten. Die Idee einer „Gedächtnisstätten-App“ soll weiter verfolgt werden. „Möglicherweise müssen wir auch etwas ganz neues Digitales erfinden.“ Des Weiteren soll die Anbindung der Gedenkorte an die Universitäten Ulm und Konstanz gestärkt werden. Für Ulm will Müller das persönlich übernehmen. Eine Kooperation zwischen dem KZ-Stollen von Überlingen und der Uni Konstanz hat bereits begonnen. Mehr Studierende der Geschichts- und Kulturwissenschaften, so das Ziel, sollen sich das Thema ihrer Seminararbeiten „auf dem Land“ holen, sollen frischen Wind und neue Perspektiven mitbringen. Auch ein nächstes Treffen wurde vereinbart, dann mit mehr Machern von „Graswurzelinitiativen“, wie Müller sagt. Mark Tritsch war diesmal schon bei der Tagung dabei. Er vertritt eine Bürgerinitiative, die in Ulm gegen viele anfängliche Widerstände die Verlegung von „Stolpersteinen“ des Künstlers Gunter Demnig durchgesetzt hat.

Womöglich ein Muster für die ganze Republik?

In Oberschwaben, berichtet Müller, sei eigentlich alles dokumentiert, was „den Schrecken des NS“ ausmacht: Euthanasie und Eugenik, Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, die Verfolgung von Sinti und Roma, die Auslöschung ehemals stolzer jüdischer Gemeinden, Zwangssterilisationen oder die explizite „Zurichtung“ politischer Gefangener im KZ. Wenn hier der Schulterschluss gelänge und sich dadurch die Gedenkarbeit, die immer auch ein Ringen für „demokratische Kultur“ sei, stärken ließe, könne das ein Konzept für die ganze Bundesrepublik sein. Ein großes Ziel. Es klingt nach einem Lauf, der einen langen Atem brauchen wird.

Das Land hat die Zuschüsse für Gedenkstätten stark erhöht

Unterschiede
Von den baden-württembergischen Institutionen, die sich um die Erinnerungsarbeit zur NS-Zeit kümmern, sind die 64 Gedenkstätten derzeit am besten organisiert und finanziert. So waren im Landeshaushalt 2011 noch rund 200 000 Euro für den Erhalt und Ausbau der Gedenkstätten eingestellt, aktuell sind es gut eine Million Euro jährlich. Meist schlechter bestellt ist es um die Finanzierung der häufig kommunal geführten Museen und der vielen ausschließlich ehrenamtlichen Lokalinitiativen.

Hintergründe
Die Landeszentrale für politische Bildung informiert über die Erinnerungsarbeit im Südwesten ausführlich auf der Seite www.gedenkstaetten-bw.de. Speziell die NS-Geschichte des Raums Oberschwaben ist unter der Internetadresse www.dsk-nsdoku-oberschwaben.de einsehbar. Herausgeber ist das Denkstättenkuratorium NS-Dokumentation Oberschwaben. Auch der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann lobt dessen Arbeit. Sie fordere immer wieder dazu auf, „unsere Ideale und Werte entschieden zu verteidigen“.