Auf den Spuren der Händler und Lastenträger: Jahrhundertealte Steinmännchen geben die Richtung vor. Foto: Eichmüller

Im Schatten der höchsten Gipfel Norwegens kann man alles über Naturverbundenheit lernen.

Oslo - „Acht bis zehn Grad, das ist für uns warm“, sagt Kari, der wetterharte Norweger, und will uns so zum Sprung ins kalte Wasser bewegen. Drei Meter unter uns rauscht der Gebirgsbach, der nahe Lom in die Otta mündet. Wer springt zuerst? Ich lasse mich ins eisige Wasser fallen. Prustend taucht das Gesicht von Kari neben mir auf. Mit breitem Grinsen gesteht er, dass Schmelzwasser aus dem Gletscher hier selten mehr als vier Grad hat.

Warum haben wir uns nicht für eine gemütliche Kanufahrt entschieden? Oder für eine leichte Klettertour? Wir aber wollten unbedingt den Bach runter. Canyoning heißt die Rutschpartie durch glatt geschliffene Felsrinnen. Zwei Stunden später steigen wir mit blauen Lippen und schlotternden Gliedern aus dem Bach und haben das wichtigste Wort des norwegischen Lebensgefühls
gelernt. Friluftsliv: Freiluftleben.

Der ideale Ausgangspunkt für Friluftsliv ist Lom, 200 Kilometer nordwestlich von Oslo. Jahrhundertelang war diese Region bettelarm. Zur Stabkirche aus dem Jahr 1158 hatten Leprakranke keinen Zutritt. Sie mussten den Gottesdienst von außen durch ein vergittertes Fenster verfolgen. Auch eine Art von Friluftsliv. Ausgegrenzt wird bis heute auch Knut Hamsun, Loms berühmtester Sohn. Der Literatur-Nobelpreisträger, der die deutsche Besetzung Norwegens begrüßte, gilt vielen immer noch als Landesverräter.

Die Berge Norwegens sind ein Kletterparadies

In Lom fallen nur 20 bis 30 Liter Regen pro Quadratmeter und Jahr. Diese klimatische Besonderheit ist heute ein Pfund, mit dem der Ort wuchern kann. Genau zwischen den drei Naturschutzparks Breheimen, Reinheimen und Jotunheimen gelegen, setzt das Naturparkdorf Lom auf Tourismus und bietet fast alles für Wanderer, Bergsteiger und Gletschergänger. Auch Spaziergänger kommen auf ihre Kosten: im norwegischen Gebirgsmuseum, in einer reichen Mineraliensammlung oder in der gehobenen Gastronomie.

Zwischen Lom und dem Sognefjord, der sich von West nach Ost tief ins Festland schneidet, existiert ein alter Handelsweg. Auf ihm wurden seit dem 14. Jahrhundert Waren wie Eisenerz, Fleisch und Butter hinunter ans Meer getragen, auf dem Rückweg gelangten Salz und Fisch ins Hinterland. Diesem alten Wanderweg folgt unsere Trekkingtour.

Der Weg führt durch den Nationalpark Jotunheimen - das Reich der Riesen. Die Riesen, das sind Sagengestalten oder die Geister der Wegelagerer, die einst die Lastenträger ausraubten und an Galgensteinen endeten. Meist aber entpuppen sich die Riesen als Varderekka, als wohlgeschichtete Steinpyramiden. Auf einer Strecke von 140 Kilometern stehen 300. Sie warnen vor moorigen Gründen und dort, wo bis Ende Mai Schnee liegt, vor brüchigem Eis. Die echten Riesen aber sind die Gipfel, die mit Gletscherzungen vor stahlblauem Himmel grüßen.

Die Wanderer wollen die Erstbesteigung wagen

„Ein Kletterparadies“, sagt Dirk und weist hinüber zu den Gipfeln der Hurrungane und des Massivs des Galdhopiggen, dem mit 2469 Metern höchsten Berg Norwegens. Vor drei Jahren ist der 41-jährige Nürnberger nach Norwegen gekommen und „der Liebe wegen“ geblieben. Seinen Gärtnerbetrieb hat er aufgegeben. Jetzt lehrt er auf einer Halbtagsstelle Schülern Deutsch. Die übrige Zeit führt er Wandergruppen und Bergsteiger. Früher hat Dirk als Alpinist das Leben in freier Natur geschätzt. Jetzt schätzt er Frilufstliv.

In Turtagro, wo schon die milde Luft des nahen Fjords zu ahnen ist, warten zwei Berghütten auf uns, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Neben einem alten Schweizer Häuschen, in dem Henrik Ibsen oft die Sommer verbrachte, ist 2002 ein futuristischer Neubau entstanden. Dort beginnt der Morgen mit einem Geräusch, das typisch ist für die Wanderregionen überall in Norwegen: Im Frühstücksraum raschelt Butterbrotpapier. Stapel von Broten werden geschmiert und mit Karamellkäse und Schinken belegt. Heißer Tee gluckert in Thermoskannen. Fast scheint es, als wollten die Wanderer heute eine Erstbesteigung wagen.

Wir dagegen lassen unsere Tour gemütlich mit einer Genusswanderung durch das Utladalen ausklingen. Dort, wo der Sognefjord im Osten endet, beginnt in Ovre Ardal ein grünes Tal, das wie durch einen überdimensionalen Axthieb 20 Kilometer ins Urgestein geschlagen scheint. Von beiden Seiten stürzen insgesamt zehn Wasserfälle zu Tal und lassen den Fluss türkis schäumen.

Eine Schande zwingt die Norweger zur Aktivität

Mit ihren blonden Haaren und dem gebräunten Gesicht könnte Rigmor Solem in jedem Film eine unbeugsame Wikingerin verkörpern. Uns aber erzählt der Chefguide des Naturschutzparks Jotunheimen eine Geschichte, die nicht bis zu den Wikingern zurückreicht und trotzdem hilft, die Gemütslage der modernen Norweger zu verstehen.

1874 landet in Ovre Ardal der Engländer William Cecil Slingsby. Durch spektakuläre Erstbesteigungen wird er zum Gründervater des Alpinismus in Norwegen. Doch mit dem Namen Slingsby verknüpft ist auch ein Trauma, das Norwegen bis heute belastet. Als der Engländer 1876 nahe Utladalen den 2405 Meter hohen Store Skagastolstind besteigt, wird er von zwei Norwegern begleitet, die ihn unterhalb des Gipfels im Stich lassen. Dafür werden sie von den Landleuten scharf kritisiert. Einer der Begleiter begeht Selbstmord.

Vielleicht treibt diese Schande die Norweger noch heute um, zwingt sie zu Aktivität, sportlichen Höchstleistungen - und Friluftsliv. Wie zum Beweis dieser These überholt uns bei der Wanderung ein junger Norweger, der mit Rucksack und schweren Bergstiefeln vorbeijoggt. Während wir in Sichtweite des Vettisfossen, des mit 275 Metern höchsten Wasserfalls Norwegens, vespern, verschwindet der Jogger in der Gischt. Wahrscheinlich nimmt er eine eiskalte Dusche. Als er später wieder an uns vorbeihastet, sind seine Lippen nicht blau. Sie pfeifen eine Melodie.

Infos zu Norwegen

Anreise
Mit dem Flugzeug von Stuttgart nach Oslo und von dort Inlandsflug nach Sogndal Haukasen - jede Teilstrecke einfach ab etwa 100 Euro. Mit dem Zug ( www.nsb.no) ab Oslo 3,5 Stunden nach Otta, von dort mit dem Bus nach Lom.

Was Sie tun und lassen sollten
Wer eine Wandertour abends mit etlichen Gläsern Bier oder Wein ausklingen lassen will, sollte sich auf jeden Fall mäßigen. Alkohol ist in Norwegen ziemlich teuer.

Auf keinen Fall sollte man die Regeln des norwegischen Jedermannsrechts missachten, das jedermann erlaubt, in der Natur sein Zelt aufzuschlagen und zu nächtigen. Voraussetzung ist ein respektvoller Umgang mit der Natur, 150 Meter Abstand zur nächsten Bebauung und der Verzicht auf offenes Feuer vom 15. April bis 15. September. Das Jedermannsrecht gilt nicht für Autotouristen und Wohnmobilfahrer.

Allgemeine Informationen
Norwegisches Fremdenverkehrsamt, www.visitnorway.de. Weitere Infos: www.visitjotunheimen.com, www.sognefjellet.com

Canyoning: www.lsadventure.no,

Wanderpaket: www.klingenberghotel.no