Die Spuren führen in die Ukraine – und ins Leere. Vieles deutet derzeit auf einen Zustand hin, der den politischen Entscheidern nicht gefallen kann, kommentiert unser Autor Christian Gottschalk.
Noch ist das Rätsel um den Nord-Stream-Anschlag nicht gelöst. Der Erlass eines Haftbefehls ist kein Schuldspruch, er ist nicht einmal eine Anklage. Aber die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft rücken nun ein nahezu zwei Jahre andauerndes Verfahren wieder in den Mittelpunkt, in dem viel spekuliert worden ist, in dem viel Blödsinn erzählt wurde, und das nach wie vor das Zeug zu einem echten Krimi hat. Noch stellen sich mehr Fragen, als dass es Antworten gibt – nach dem Erlass des Haftbefehls sogar mehr denn je zuvor. Und das Ganze ist – ebenso mehr als je zuvor – nicht nur eine kriminalistische, sondern eine hoch politische Angelegenheit.
Bundesanwälte beweisen Standhaftigkeit
Die Bundesanwaltschaft wird weiter den langen Atem brauchen, den sie schon bis jetzt bewiesen hat. Schweden und Dänemark haben die Ermittlungen im Frühjahr eingestellt, Karlsruhe blieb am Ball. Auch dann, als sich herauskristallisierte, dass ein Ukrainer für die Sprengung der Gasleitung im September 2022 verantwortlich gewesen sein könnte. Das ist kein Ergebnis, welches den politischen Entscheidern gefallen kann. Doch die Bundesanwälte haben sich ja auch schon in der Vergangenheit nicht als willenloser Erfüllungsgehilfe der Regierung, sondern als eigenständig denkende Ermittler bewiesen. Generalbundesanwalt Jens Rommel hatte dem jüngst erfolgten Austausch des Tiergartenmörders nicht zugestimmt. Er wurde vom Justizminister dazu gezwungen.
Wer in der Ukraine wusste was?
Und noch ist die Frage aller Fragen nach wie vor völlig unklar. Nämlich die, ob sich der politisch größte anzunehmende Unfall denn bewahrheiten könnte, dass die ukrainische Regierung mit der Sache in Verbindung steht. Dass so ein Anschlag nicht von ambitionierten Hobbytauchern am Stammtisch geplant werden kann, scheint klar. Dass ein ukrainischer Staatsbürger als Tatverdächtiger eher Fäden nach Kiew, denn in andere Gegenden haben könnte, ist zumindest wahrscheinlich. Wohin genau die Spuren führen könnten ist aber nicht bekannt. Vieles ist denkbar.
Ende von manch einer wirren Theorie
Allerdings: die eher wirren Theorien die der ehemalige Top-Journalist Seymour Hersh (der CIA war es) verbreitet hat, oder die allseits kolportierten Spekulationen, Moskau habe die eigene Pipeline vernichtet, geraten nun erst einmal in den Hintergrund. Wobei letzteres eine Gefahr in sich birgt: So gekonnt, wie Russland Tatsachen verdreht und Nebelkerzen streut, darf es nicht verwundern, wenn dies auch jetzt geschehen wird. Aus einem „wir wurden bei Nord Stream zu Unrecht beschuldigt“ werden Wladimir Putin und seine Spießgesellen schnell einen Vergleich zu anderen Vorwürfen ziehen und dort auf ihre Unschuld verweisen. Belegte Vorwürfe gegen Russland gibt es aber zuhauf.
Verhalten der Medien ist zweifelhaft
Neu hinzu gekommen in die Liste der Ungereimtheiten und Rätsel ist nun noch das Verhalten Polens. Die Behörden dort haben bereits Ende Juni das deutsche Rechtshilfeersuchen zur Festnahme bekommen – und es so lange nicht vollstreckt, bis der gesuchte Tauchlehrer untertauchen konnte. Nun kann auch hier munter spekuliert werden. War es nur eine Schlamperei? Oder hat das Abwarten andere Gründe? Sicher ist: Polen gehörte seit jeher zu den stärksten Kritikern der Nord-Stream-Pipeline und der damit verbundenen deutschen Abhängigkeit von russischem Gas.
Hinterfragt werden muss auch die Rolle mancher Medien. Sicher: ohne deren Recherche wüsste man nicht, was man heute weiß. Andererseits soll mindestens eine Zeitung den Verdächtigen in Polen angerufen haben. Das kann mit dazu beigetragen haben, dass er verschwunden ist, und nun nicht mehr zu möglichen Auftraggebern befragt werden kann. Die Geschichte geht erst einmal weiter.