Viele haben erwartet, dass der Nobelpreis für Medizin für Forschungen am Coronavirus verliehen wird. Doch es kam anders – zwei Amerikaner haben ein Rätsel der Natur gelöst.
Stockholm - Der Nobelpreis für Medizin geht in diesem Jahr an David Julius (USA) und den im Libanon geborenen Forscher Ardem Patapoutian für ihre Entdeckung von Rezeptoren für Temperatur und Berührung im Körper. Das teilte das Karolinska-Institut am Montag in Stockholm mit. Das Wissen werde genutzt, um Behandlungen für eine Reihe von Krankheiten zu entwickeln, darunter chronische Schmerzen.
Warum ist der Preis nicht für Forschung am Coronavirus vergeben worden?
Im Testament von Alfred Nobel, dem Erfinder des Dynamits, findet sich folgende Formulierung: Die Auszeichnung sollte an diejenigen gehen, deren Entdeckung der Menschheit im vergangenen Jahr „den größten Nutzen erbracht habe“. Tatsächlich ehrt das Nobelpreiskomitee traditionell Entdeckungen mit aktuellem Bezug, die aber oft vor längerer Zeit gemacht wurden. Auf Nachfragen, ob es rund um das Thema Corona keinen geeigneten Kandidaten für die Auszeichnung gegeben hätte, wollte ein Sprecher des Komitees nicht eingehen. Klar ist: Die diesjährige Preisverleihung wird Diskussionen aufwerfen – und Forscherinnen und Forschern wie Ugur Sahin und Özlem Türeci von der Mainzer Firma Biontech werden in Zukunft weiter große Chancen auf den Medizinnobelpreis eingeräumt.
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Um was genau geht es bei der nun ausgezeichneten Forschung?
Die Forschung von David Julius und Ardem Patapoutian trägt entscheidend dazu bei, zu verstehen, wie ein Mensch Wärme, Kälte oder Druck auf seiner Haut wahrnimmt. Wie reagieren Menschen auf Reize aus ihrer Umwelt? Welche Rolle spielen dabei Nervensignale? Die beiden Forscher haben unter anderem die Rolle bestimmter Gene untersucht: Bei der Frage, wie der Mensch Druck auf seiner Haut empfindet, nahmen sie 72 Gene als entscheidende Faktoren in die engere Auswahl. Anschließend schalteten sie nacheinander jedes einzelne dieser 72 Gene in seiner Funktionsfähigkeit aus – bis sie den entscheidenden Treffer landeten: Wenn ein bestimmtes der 72 untersuchten Gene nicht aktiv war, konnte die betreffende Zelle den äußeren Reiz nicht mehr wahrnehmen. Mit ihrer Arbeit „haben sie eines der Geheimnisse der Natur entschlüsselt“, heißt es in der Würdigung des Nobelpreiskomitees.
Warum spielt eine Chilischote bei der Arbeit eine Rolle?
David Julius nutzte Capsaicin, jene Verbindung aus Chilischoten, die ein brennendes Gefühl hervorruft, um einen Sensor in den Nervenenden der Haut zu identifizieren, der auf Hitze reagiert. Zuvor war bereits bekannt gewesen, dass Capsaicin bei Kontakt Schmerzrezeptoren aktiviert – aber wie genau dies geschieht, war unklar. Die beiden ausgezeichneten Wissenschaftler beantworten mit ihrer Forschung eine Frage, die lange in Teilen ungelöst war: Wie werden Druck oder Hitze – beispielsweise wenn ein Kind auf eine heiße Herdplatte fasst – in elektrische Impulse innerhalb des menschlichen Nervensystems umgewandelt?
Worin liegt der konkrete Nutzen der Arbeit?
Die Forschung von Julius und Patapoutian hat neue Behandlungsmöglichkeiten für chronische Schmerzen ermöglicht und den Weg zur gezielteren Behandlung von zahlreichen anderen Krankheiten eröffnet. Angesichts der großen Zahl chronisch Schmerzkranker gewinnen ihre Erkenntnisse eine breite Wirkung in der Medizin. Laut Angaben der Deutschen Schmerzgesellschaft leiden mehr als acht Millionen Deutsche unter chronischen Schmerzen.
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Wer sind die beiden Forscher?
David Julius und Ardem Patapoutian arbeiten beide als Molekularbiologen. Der 1967 im libanesischen Beirut geborene Patapoutian war in seiner Jugend nach Los Angeles gezogen und hatte am California Institute of Technology in Pasadena promoviert. Seit 2000 arbeitet er im kalifornischen La Jolla. Die Nachricht von seiner Auszeichnung mit dem Medizinnobelpreis hat Patapoutian zu nächtlicher Stunde erreicht – die offizielle Verkündung schaute er sich danach mit seinem Sohn im Bett sitzend an. Auch der in New York geborene David Julius wurde zu früher Stunde vom Karolinska-Institut informiert, wie seine Frau Holly Ingraham bei Twitter schrieb. Dazu stellte sie ein Bild von Julius, wie er – offenbar noch im Morgenmantel – auf ein elektronisches Gerät blickt.
Wer hat den Nobelpreis für Medizin bereits bekommen, und welche Preise stehen nun an?
Seit 1901 haben 222 Menschen den Medizinnobelpreis erhalten, darunter zwölf Frauen. Der erste ging an den deutschen Bakteriologen Emil Adolf von Behring für die Entdeckung einer Therapie gegen Diphtherie. 1995 erhielt als erste und bislang einzige deutsche Frau Christiane Nüsslein-Volhard diese Auszeichnung. Im vergangenen Jahr bekamen Harvey J. Alter (USA), Michael Houghton (Großbritannien) und Charles M. Rice (USA) den Preis. Sie hatten maßgeblich zur Entdeckung des Hepatitis-C-Virus beigetragen. Am Dienstag und Mittwoch werden die Träger des Physik- und des Chemiepreises benannt. Am Donnerstag und Freitag folgen die Bekanntgaben für den Literatur- und den Friedensnobelpreis.