Nina Hoss in „Bella Figura“ an der Schaubühne Berlin Foto: dpa

Sie ist die begabteste Seziererin menschlicher Beziehungen: Am Samstag feierte Yasmina Rezas „Bella Figura“ mit Nina Hoss und Mark Waschke Premiere an der Berliner Schaubühne.

Sie raucht, damit er sich Sorgen macht. Er weiß nicht, ob er sie küssen oder niederrangeln möchte. „Oder wir nehmen ein Zimmer im Ibis und vögeln gleich, wäre mir eh lieber“, sagt Boris als ersten Satz zu Andrea. Klar, das wäre deutlich unkomplizierter für den Familienvater, als die langjährige Geliebte in ein feines Meeresfrüchte-Restaurant auszuführen. Zu einem sogenannten schönen Abend, der in einer sozialen und seelischen Karambolage endet.

Ihre wenigen Figuren sachte anzustoßen, so dass sie wie Billardkugeln nach einigen Bandenberührungen zwangsläufig aneinanderstoßen und unberechenbare Bewegungen in Gang setzen: Das beherrscht die Dramatikerin Yasmina Reza vortrefflich. Weltbekannt wurde sie mit „Der Gott des Gemetzels“, nun hat sie eigens für die Schaubühne und ihren künstlerischen Leiter Thomas Ostermeier das Stück „Bella Figura“ geschrieben. Eine neue Sezierstunde alltäglicher menschlicher Grausamkeit ist das, sorgfältig freigelegt Lage um Lage.

Berührend intim

Die Ausgangslage, an die Reza ihr Queue anlegt: Der verheiratete Boris (Mark Waschke) hat seit Jahren eine Affäre. So alltäglich ist sie ihm geworden, dass er seine Frau beiläufig nach einem Restauranttipp fragt, als er die Geliebte Andrea (Nina Hoss) einmal chic zum Essen ausführen will. Und so nachlässig ist er geworden, dass er diesen Umstand auch noch Andrea erzählt. Der erste kleine Streit, noch auf dem Parkplatz rund um das Auto entfacht, wirkt durch das ungewohnte Theatersetting des echten Wagens berührend intim und dem realen Tristleben abgelauscht, so naturalistisch ist die kleine, kindische Eskalation.

Und dann – die Karambolage der Menschenkugeln wird fast wörtlich umgesetzt – fährt Boris beim wütenden Zurücksetzen mit dem Wagen eine alte Frau um: Yvonne, die Mutter von Eric, der seinerseits der Lebensgefährte von Françoise ist, einer guten Freundin von Boris’ Ehefrau. Das Trio will im selben Restaurant Yvonnes Geburtstag feiern.

Situation wird zu einer echten Krise

Ganz langsam schwillt die peinliche Situation zu einer echten Krise an, es schleichen sämtliche Figuren um das offensichtliche Tabu des Ehebruchs herum – bis auf Yvonne, die nicht wirklich zu verstehen scheint, was sie hier sieht. Und fast scheint es eine Weile, als könnte man das missliche Zusammentreffen ungeschehen machen, wenn man sich nur rechtzeitig wieder trennte, bevor die Realität wirklich real würde.

Großartig komponieren die Darsteller die Reaktionen ihrer Figuren zu einer immer lauter werdenden Sozial-Kakofonie: Nina Hoss spielt Andrea als heimlich verzweifelte Frau, lange nicht so abgezockt, wie sie gerne wäre, nicht coole Geliebte, sondern leidende Zweite. Für Hoss ist „Bella Figura“ erst ihr zweiter Schaubühnen-Auftritt nach ihrem Wechsel vom Deutschen Theater. Mark Waschke hält für seinen Boris mit immer sichtbarerem Kampf die Fassade aufrecht, alles im Griff zu haben.

Stephanie Eidt lässt als kühle Beobachterin Françoise immer wieder die eigene Einsamkeit, den eigenen, verdrängten Beziehungsgraus durchschimmern, während Renato Schuch ein provozierend unverbindlicher Eric gelingt, so jovial und neoliberal, dass man ihn mit der Nase auf das Chaos stoßen möchte, damit er endlich beschließt, es ebenfalls zu sehen. Und Lore Stefanek zeigt eine großartige Yvonne, immer changierend zwischen argloser Liebenswürdigkeit, Exzentrik und beginnendem Selbstverlust.

Von einer halb selbstzerstörerischen Sehnsucht gehalten

So unheilvoll das Setting, so wenig können sich die Charaktere daraus lösen. „Gehen wir jetzt endlich?“ – „Ihr seid ja immer noch da“: Das sind die Sätze, die sich wie ein Leitmuster durch den Abend ziehen. Als würden die Figuren von einer halb selbstzerstörerischen Sehnsucht gehalten. Endlich einmal genug Zeit verstreichen lassen, damit sich die Verhältnisse auffalten können, die Gefühle, die sonst wie hastig zerknüllte Taschentücher weggesteckt werden! Endlich im flüchtigen Alltag einmal Pausen zulassen, in denen man Frösche vom nächtlichen Restaurantteich quaken hören kann. Und Zikaden, die sich auch noch mechanisch zum Zirpen bringen lassen, wenn sie längst tot sind.

Vielleicht sind auch die Bündnisse der Figuren untereinander längt schon gelöst. Seine persönliche Krise hat hier jeder zu tragen: Glasereiunternehmer Boris steht vor dem finanziellen Fiasko, er hat sich verspekuliert, als er Veranden mit revolutionärer Isolierverglasung bauen wollte. Françoise fühlt sich von Eric alleine gelassen, er dagegen glaubt sich und seine Ackerei für den gemeinsamen Lebensstil zu wenig gewürdigt, dazu kommt seine Mutter Yvonne, die mit beginnender Demenz kämpft.

All diese Mikrodramen spielen auf einer sanft kreisenden Drehbühne, im von Jan Pappelbaum so klug minimalistisch angelegten Bühnenbild, dass das kleinste funktionale Detail metaphorisch aufgeladen scheint. Wie etwa die tiefen Sofasitze, in denen die alte Yvonne eingekeilt ist, so dass sie nur noch gelegentlich hilflos zur Seite wegkippen kann. Das Hummer-Aquarium im Restaurant, dessen Sauerstoffblasen sich wie letzte Lebenszeichen glitzernd auf Andreas Gesicht spiegeln. Die gläserne Toilettenkabine, in der sie und ihr Geliebter Boris sich zum verzweifelten Sexversuch umschlingen, als seien sie selbst zwei Krebse im Restaurant-Aquarium.

„Bevor du dich in die Garonne stürzt, könntest du an deinem letzten Abend versuchen, Bella Figura zu machen, so wie ein wirklich großer Spieler!“, sagt Andrea irgendwann zu Boris. Bella Figura machen, das heißt Haltung bewahren. Als die zufällige Lokalgemeinschaft beim Abschied eine Sternschnuppe sieht, scheinen die Charaktere selbst nicht zu wissen: Was sollen sie sich wünschen? Und was sollen wir ihnen wünschen, was uns selbst? Ein kluger, schmerzhafter Theaterabend.

Nochmals vom 18. bis 20. Mai sowie vom 4.bis 7., 9. bis 11. und 13. bis 15. Juni. Karten: 030 / 89 00 23