Bei den Wormser Nibelungen-Festspielen vernichtet die Regie „Luther“, das neue Stück des Büchner-Preisträgers Lukas Bärfuss.
Worms -
Die Wormser Nibelungen-Festspiele gehen fremd. Sie treiben es in diesem Jahr mit Luther und nicht mit Siegfried, Kriemhild, Gunther und Brünhild, die sich hier seit 2002 mit Feuer, Schwert und Ränke um den Schatz der Nibelungen balgen. Die Kulisse für ihre habituell von großen Gesten begleiteten Aufmärsche ist der Wormser Dom, ein imposanter historischer Ort, an dem sich der Sage nach der Hof der Burgunder befunden haben soll. Vom Genius Loci zehrt jetzt auch der Fünfakter „Luther“ des Büchner-Preisträgers Lukas Bärfuss. Der „kleine Augustinermönch“ trat im vorm Dom gelegenen Bischofshof 1521 vor Kaiser Karl V. und weigerte sich, seine Lehren zu widerrufen: eine Zeitenwende, die zur Geburt der Moderne führte.
Das ist 500 Jahre her, Worms feiert – und Bärfuss lässt Luther nicht auftreten. Der Reformator kommt nur im Titel vor sowie im Reden, Denken, Fühlen von Bürgern, Fürsten, Bischöfen und dem im Rom in Saus und Braus lebenden Papst Leo X. Luther bleibt der große Abwesende im Drama der Weltgeschichte, und selbst sein legendärer Auftritt auf dem Wormser Reichstag wird lediglich referiert von seinen Jüngern.
Gleicher Trick wie bei Helmut Kohl
Kein „Gott helfe mir. Amen“ ist aus Luthers Mund zu hören, ebenso wenig das berühmte, historisch allerdings nicht verbürgte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Bärfuss indes enttäuscht Erwartungen nicht zum ersten Mal. Als er fürs Mannheimer Nationaltheater ein Stück über Helmut Kohl schrieb, griff er ebenfalls zum Abwesenheitstrick, sparte Kohl aus und ließ den Altkanzler nur verwandelt als „Elefantengeist“ durch die Szene spuken.
Bärfuss interessiert sich für die Beben, die große Männer auslösen, und wie sie die Welt verändern, aber eben auch für diese großen, epochalen Figuren, ob ab- oder anwesend. In der Nachfolge Schillers schaut er ihnen auch in „Luther“ treuherzig beim Geschichte machen zu. Joachim, Kurfürst von Brandenburg, ist pleite; um an Geld und Macht zu kommen, will er Elisabeth, die Prinzessin von Dänemark, heiraten sowie seinen Bruder Albrecht, einen Wüstling vorm Herrn, zum Bischof machen. Das gottlose Geschacher widert Friedrich, den Kurfürsten von Sachsen und Elisabeths Onkel, an. Als frommer Mann ist er bald von Luthers revolutionärer Idee beseelt, der Mensch solle nur Gott und seinem Gewissen untertan sein, nicht aber der verrotteten Kurie, was man im Vatikan ungern hört, weshalb der päpstliche Legat nach Deutschland reist und so weiter und so fort.
Ein unbekömmlicher Genrebrei
Die verwickelte Handlung zeugt vom Studium historischer Quellen und die altfränkische Sprache vom Eindruck, den die Lektüre der Luther-Bibel bei Bärfuss hinterlassen hat. Doch bei allem Fleiß ist sein hingezimmertes Drama kein großer Wurf. Es zeigt Thesen statt Menschen, springt beliebig von Ort zu Ort und droht unter der Fülle der Themen einzubrechen wie ein Haus unter Wassermassen.
Zum Debakel aber wird „Luther“ erst bei der Uraufführung auf der Wormser Freilichtbühne. Das ungarische Inszenierungsteam wird von der bei uns unbekannten Ildikó Gáspár angeführt und macht aus der Szenenfolge – ja, was eigentlich? Drama? Groteske? Farce? Soap? Musical? Oper? Was die Regie auf der goldgelben Bühne anrichtet, ist ein schlichtweg unbekömmlicher Stil- und Genrebrei.
Alle Tapferkeit hilft wenig
Zwischen dem Pilgerkiosk des sächsischen Kurfürsten und dem Stahlgerüstpalast seines brandenburgischen Kollegen entfaltet sich, unter Hinzunahme von Bike, Scooter, Segway, Papamobil, ein über die Volkshochschule triumphierender Kindergeburtstag, der mit verkrampften Pointen nirgends an den humorfreien Bärfuss-Text andocken kann. Trauriger als bei diesem gedankenfreien Kuddelmuddel hat das aufgekratzte Regietheater von gestern noch nie aus der Wäsche geguckt.
Dazu gehört auch, dass viele Rollen gegendert sind. Frauen spielen Männer, auch im Fall des Papstes. Zu den Spielern und Spielerinnen, die Glanz nach Worms bringen, gehört in diesem Jahr neben Julischka Eichel und Matthias Neukirch vor allem Sunnyi Melles. Ihren Papst Leo stattet sie mit der exaltierten Entrücktheit einer Diva aus, die sich ganz im Snobismus verliert. Nicht Gott huldigt sie, sondern ihrem Elefanten Hanno – und ihr fiebriges Spiel gehört zu den wenigen gelungenen Momenten des Abends, zu denen auch Jürgen Tarrach beiträgt, wenn er seinen Bischof Albrecht als feisten und geldgeilen Wüstling zeichnet. Aber auch sie, Tarrach und Melles können mit ihrer Tapferkeit das künstlerische Debakel dieser Luther-Vernichtung nicht vergessen machen. Worms ist 2021 keine Reise wert.
Weitere Aufführungen fast täglich bis zum 1. August.
Das Wormser Festival
Glamour
Am Anfang stand die Harmonie. Als das Festival 2002 erstmals in Worms stattfand, herrschte zwischen den Gründervätern noch Einverständnis. Mario Adorf und Dieter Wedel wollten großes Theater groß besetzt in die geschichtsträchtige Provinz bringen. Bald gingen sie im Streit auseinander, Adorf warf hin und Wedel wurde Intendant mit einem Faible fürs Spektakel. 2015 gab er die Fackel an Nico Hofmann weiter, den Chef der Ufa-Fiction. Wedel wurde später von der Metoo-Debatte eingeholt und zog sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück.
Qualität
Aus RTL soll Arte werden: mit diesem Anspruch trat Hofmann sein Amt vor sechs Jahren an. Tatsächlich sind die Festspiele zuletzt mit Autoren wie Thomas Ostermaier, Feridun Zaimoglu und Thomas Melle langsam, aber beharrlich an die Salzburger Festspiele herangerobbt. „Luther“ ist da – nicht als Text, aber doch als Inszenierung – ein herber Rückschlag.