Peter Schwarz mit seiner Frau Katja auf dem Schrottplatz: der weiße Klumpen Metall war mal ihr VW-Bus. Foto: Gottfried Stoppel

Vor neun Monaten fiel eine Sturzflut mit unvorstellbarer Zerstörungskraft über Braunsbach ein. Wie hat sich der 1000-Einwohner-Ort verändert? Die Geschichte einer Katastrophe. Teil 2: das Chaos

Zur Multimediareportage

Braunsbach -

Am Morgen danach gibt es Leute aus Braunsbach, die sind unberührt von der Flut geblieben, haben keine Nachrichten gehört, mit keinem im Ort gesprochen – und wundern sich jetzt, warum sie nicht wie gewohnt zur Arbeit fahren können. Auch eine Anwohnerin im Nordic-Walking-Dress muss vor der Straßensperre abbremsen: „Was ist denn da?“

Das Chaos. Die Zerstörung. Im Kindergarten sitzt das Krisenteam. Seit 22 Uhr leitet der Führungsstab des Landkreises die Einsätze, seit 3 Uhr in der Früh ist bereits schweres Baugerät im Einsatz. Um 9 Uhr meldet sich Ministerpräsident Kretschmann auf dem Handy von Frank Harsch. Da wird dem Bürgermeister endgültig klar: Das ist die Stunde null für Braunsbach.

Am Morgen danach weiß man: Es gibt keinen Toten und keinen Schwerverletzten aus Braunsbach. Das kann man wohl ein Wunder nennen. Erst eine Woche später ist die Lage geordnet genug, um auch auszuschließen, dass vielleicht Auswärtige, die am 29. Mai zufällig in der Gegend unterwegs waren, Opfer der Sturzflut wurden.

Vor dem Unglück hatte Braunsbach eine Sporthalle, eine Post, eine Volksbank, eine Arztpraxis, eine Apotheke, drei Wirtschaften, ein Schreibwarengeschäft, ein Sanitärhaus, zwei Fahrschulen, einen Blumenladen, einen Computershop, ein Reisebüro, das Lädle der Familie Schwarz. Danach hat Braunsbach nichts mehr.

Den Zweiten Weltkrieg überstand der Ort ohne große Schäden. Jetzt sieht er aus, als hätte in der Nacht eine Stuka-Kampfschwadron ihre Bombenteppiche gelegt. Armdicke Kabel ragen aus dem Boden, zerfetzte Wasserrohre, die Orlacher Straße durchzieht ein Geröllgletscher. In der Hauptstraße haben sich meterhohe Schuttgebirge aufgefaltet. Kolossale Asphaltbrocken thronen auf den Gipfeln oder treiben wie Eisschollen im knietiefen Schlammmeer. Wo anfangen mit dem Aufräumen?

Alles Private ist nach außen gekehrt

Familien stehen ratlos vor ihren Häuserresten. Ein Mann stakst wie abwesend durch den Schlamm. An die ersten einsturzgefährdeten Häuser wird mit roter Farbe „Betreten verboten“ gesprüht. Die Einwohner teilen sich den Ort mit Dutzenden Kamerateams. Es gibt keine Intimsphäre mehr: Alles Private ist nach außen gestülpt, ganze Wohnungseinrichtungen liegen im Dreck. Man blickt wie auf riesige Puppenstuben in Häuser ohne Fassaden. Ausgebeint, durchgespült, bis auf die Grundbalken entblößt. In einem Hausgerippe hängt noch ein Tierkalender an der Küchenwand, beim Nachbarn baumelt eine Wohnzimmerlampe. Möbel liegen im Morast wie Rosinen im Kuchenteig. Eine dekorative Kuchenplatte, ein Herrenhausschuh von Romika, Kinderunterhemdle, naive Malerei mit Schafmotiv, ein Buch „Lachen Sie mit“ von Robert Lembke, ein einsamer Lexikonband: „osts bis rhus“. Die Frau aus Stein vom Marktplatzbrunnen ist geköpft, einen Fuß hat sie auch verloren.

„So hoch stand das Wasser“, sagt Peter Schwarz und zeigt bis zur Decke seines Trümmerladens. Seine Wohnung in den oberen Etagen hat nichts abbekommen, das Wasser machte auf der Treppe halt. Sein Lädle ist kaputt. Kuchentheke, Eistruhe, Mikrowelle, Wursttisch, die Tafel fürs Café (Torte 2,60 Euro, Butterbrezel 1,20 Euro): Alles schwimmt im Schlammbrei.

Seit zwölf Jahren hat Schwarz den Laden, seine Frau führt das Geschäft. Sein Tagesablauf bisher: morgens um halb fünf Backwaren holen in Obersteinach, um sechs die Kinder wecken, dann zur Arbeit, halbtags bei Maas-Baustoffe. Sein Alltag nach der Flut: Versicherungen anrufen. Bevor er irgendwas im Laden anrühren darf, muss ein Gutachter die Freigabe erteilen.

Ein Bürgermeister im Trümmerland

Am Marktplatz wird ein Hyundai-Geländewagen vom Greifarm eines Baggers geangelt und einige Meter weiter wieder beiseite gelegt. Im ganzen Ort ein Sägen und Motorenlärm, überall Lastwagen, Bulldozer, Kipper und was das Nutzfahrzeugsortiment so hergibt. Ständig hupt es, ständig muss jemand ausweichen. Braunsbach rückt ganz eng zusammen, Grundstücksgrenzen gibt es eh keine mehr. Wer sein abbruchreifes Haus nicht betreten darf, hilft bei anderen. Wer unbeschadet blieb, packt erst recht mit an – darunter auch einige, „die aussehen, als hätten sie noch nie eine Schaufel in der Hand gehabt“, wie Peter Schwarz es ausdrückt. Menschen, die jahrelang zerstritten waren, reden miteinander. Andere, die noch nie miteinander geredet haben, lernen sich kennen.

Frank Harsch geht mit dem Einsatzleiter durch das Trümmerland. Auf seiner Jacke steht „Bürgermeister“. Später wird er sich gar nicht mehr genau erinnern, was er in den ersten Stunden und Tagen alles gemacht, mit wem er gesprochen hat. Wie in Trance versucht er zu funktionieren. In der Unglücksnacht hat er noch wie Fernsehkommissare kurzerhand das Auto einer Braunsbacherin beschlagnahmt: „Ich brauche sofort Ihren Wagen.“ Damit fuhr er dann – welche Route er nahm, weiß er auch nicht mehr – nach Orlach hoch, um sich einen Überblick zu verschaffen. Dort ließ er den Wagen schließlich stehen.

Seit zwölf Jahren ist er Bürgermeister. Nach dem BWL-Studium hat er noch seinen Master in Verwaltungswissenschaft gemacht, dann wählten ihn die Braunsbacher. „Man kann auf der Hochschule grundsätzliche Strukturen für Notlagen lernen“, sagt er, „aber hier geht nichts mehr nach Plan.“ Er sei demütig nach dem, was er gesehen habe. „Das war nicht von Menschenhand aufzuhalten.“ Braunsbach hat Kocher-Rückhaltebecken, die Leute wissen um die Hochwassergefahr. Aber eine Sturzflut von hinten, von zwei kleinen Bächle, damit hat keiner rechnen können.

Der Traum vom neuen Braunsbach

Der Krisenstab aus Feuerwehr, Polizei, Rotem Kreuz, Technischem Hilfswerk, DLRG und Spezialisten vom Landratsamt arbeite wahnsinnig professionell: „Der Kreisbrandmeister ist der Stabschef. Aber jeder kommt zu Wort, und auf jeden wird dann gehört, als wäre er in dem Moment der Chef“, sagt Harsch. „Immer Klartext, keine Diskussionen, kein Gelaber, keine Selbstdarstellung, keine geschliffene Rhetorik. Alles auf Effizienz ausgerichtet.“ Schon in diesen ersten Tagen wächst in ihm der Traum von einem neuen Braunsbach.

Ein Mann sieht zu, wie sein Elternhaus abgerissen wird. Der Schaufelbagger knickt die Stützbalken um wie Streichhölzer. Die Familie hatte nah ans Wasser gebaut. „Aber der hintere Bach war nicht das Problem, der Schlossbach war’s.“ Er ist in dem Haus geboren, sein Vater hatte hier seine Schreinerei, sein Neffe wohnte noch drin. Der Mann kämpft mit den Tränen. Er wühlt in den Trümmern, wirft einige Teile aus dem Loch, das früher ein Fenster war. Er sucht den Schärfapparat seines Vaters. „Der war schon alt, aber man hängt halt dran.“

Eine Familie entrümpelt ihr Haus: Ein schlammbrauner Koffer wandert nach draußen, schlammbraune Gartenstühle, schlammbraune Gardinenstangen, schlammbraune Sessel. Alles landet auf dem Müllplatz, der die Orlacher Straße war. Hinter dem Haus steht das zerquetschte Auto der Familie. Der Nachbar sägt seit Ewigkeiten am Wurzelwerk einer gewaltigen Erle, die sich ins Haus schob. Einen VW Caddy spülte die Flut auf den Zentimeter genau zwischen zwei Garagen durch, stellte ihn dahinter auf einem trockenen Plätzchen ab. Ohne Schramme.

Neun Häuser müssen wohl weg

Eine zehnköpfige Gruppe, schwer beladen mit Rucksäcken, lässt sich wie selbstverständlich in der Ladenruine von Peter Schwarz nieder. „Was hend jetzt ihr vor, wenn i froga darf?“ Es sind freiwillige Helfer von irgendwoher.

Die allermeisten waren wohl gut versichert, sagt Peter Schwarz. Wie man hört, müssen neun Häuser abgerissen werden. Manche planen schon, neu zu bauen. Ein Häusle zu bauen ist wichtig in Braunsbach. Was schaffen. Was erarbeiten. Fast keine der alteingesessenen Familien hat nur ein Haus im Ort, sondern gleich drei oder vier. Hier bleibt man zusammen, und jeder baut, was er kann. Der Vater von Peter Schwarz hat zwei Häuser gebaut. Eins behielt der Bruder, das zweite hat Peter noch dazu genommen. „Alle im Ort haben sich immer vergrößert und verbessert“, sagt Schwarz. „Es gibt keinen Stillstand.“

Er hat Kfz-Mechaniker gelernt beim Nachbarn, er hat als Dachdecker gearbeitet, Massivhäuser aufgebaut, Flachdächer isoliert, Tennishallen „nuffzoga ond vernagelt“, er war Lagerleiter im Baustoffhandel. Ein praktischer Mann, „mit Zahlen hab’ ich’s nicht so“. Seine Brüder schon eher: einer war jüngster Filialleiter bei Lidl, der andere schaffte bei Procter & Gamble in Crailsheim, bevor er krank wurde. Der dritte war Butler beim Fürst Fugger. „Es war noch nie einer arbeitslos in der Familie.“

Seine Frau Katja, 44, kennt Peter schon als Baby. Sie ist die Tochter vom Autohändler, wo er als Jugendlicher immer mitschaffte, oft bis in die Nacht hinein – „und dann morgens ins Geschäft“. Sein Schwiegervater hat in einer Scheune angefangen, heute besitzt er vier Hebebühnen. So ist das hier: „Immer ein Stück vorankommen, immer so groß wie möglich. Und immer schauen, dass aus den Jungen was wird.“ Der Heizungsbauer Wolf zum Beispiel hat das ehemalige Zementlager gekauft und seine Energiewelt daraus gemacht. Jetzt sind alle sechs Gebäude kaputt.

Interview mit der BBC

Von überall her kommen Spenden: Besen, Schaufeln, Gummistiefel, Klopapier, Shampoo, Zahncreme, Schubkarren, Konserven. Ein paar Tage nach der Flut verteilt der pensionierte Ortskämmerer bereits Bündel von 100-Euro-Scheinen als Soforthilfe: maximal 2500 Euro pro Haushalt, 5000 für kleine Gewerbebetriebe.

Harschs To-do-Liste ist endlos: Dixie-Klos aufstellen, Stromversorgung wiederherstellen, Wasserrohre mit Ultraschall auf Lecks testen, flicken oder schnell neue legen, Behelfsbrücken bauen, Grundstücke von Ölrückständen befreien. Wie kriegt man diese unglaublichen Geröllmassen weg? Der örtliche Friedhofsbagger kann da wenig ausrichten, da braucht es Logistik und Maschinen wie beim Braunkohleabbau. Wie verteilt man die Helfer, dass da ein System reinkommt? Wie findet man auch Zeit für die Bürger? „Die haben ja ein Recht auf Informationen.“ Manchmal schreit er genervt: „Ich bin hier gerade im Gespräch! Warten Sie!“ Mit vielen Braunsbachern ist er jetzt auch per du.

Eine Frauengruppe schleppt einen Kessel mit selbst gemachten Maultaschen an. Wohin damit? Erst mal zum Schwarz. Ein Mann reist aus Bautzen an, um zu helfen. Ein Stuttgarter Paar nimmt eine Woche Urlaub, um am Wiederaufbau im Osten teilzuhaben. Ein Arbeitsloser aus Heilbronn schafft von früh bis spät. Eine Gruppe Flüchtlinge kommt morgens im Bus, schwingt dann die Schaufeln.

„Es ist alles eine Flut: das Wasser, die Hilfe, die Presse“, sagt Frank Harsch. Der BBC gibt er ein einstündiges Interview, vorher schlägt er noch ein paar Fachausdrücke im Englisch-Lexikon nach. Sogar das chinesische Staatsfernsehen ist da. Versicherungsvertreter mit Aktentaschen und Kurzmänteln gehören zum Ortsbild. Statt Kanu-Urlauber kommen jetzt Katastrophentouristen. Bei einer Kontrolle schickt die Polizei 180 Autofahrer zurück.

Babyschuhe im Schrottauto

„Mal gucken, was man da ausbeulen kann“, sagt Peter Schwarz mit Galgenhumor. „Da gibt’s gute Polituren“, meint ein Gutachter, der gerade versucht, das Auto nebenan zu identifizieren. Familie Schwarz guckt sich ihren VW-Bus an. Irgendwann war er an dem Abend noch in die Klinge gestürzt. Mit hundert anderen Braunsbacher Schrottautos ist er beim Autoverwerter in Vellberg gelandet. Und noch eine Woche danach kommen ständig weitere Wracks dazu. Ein paar bekannte sind dabei: „Unser Feuerwehrauto – grad vier Jahr alt, ewig schad . . . im Lechner sein Hyundai . . . im Frieder seins  . . . im Walter sein Bus . . . im Moritz sein Seat . . . im Bernd sein Chevrolet mit dem Rollstuhlaufkleber.“

„Wenn der Schriftzug vom Laden nicht wär, ich hätte unser Auto nicht mehr erkannt“, sagt Katja Schwarz. Es ist nur noch ein Klumpen Metall, stinkt nach Öl und wiegt jetzt, vollgesogen mit Wasser, vollgestopft mit Schlamm, Schutt, Schwemmholz, Steinbrocken, stattliche fünf Tonnen. „Da ist rein gar nichts mehr zu verwenden, höchstens die Anhängerkupplung.“

Katja Schwarz entdeckt die Kinderschuhe von Tochter Vanessa, Größe 19, die waren als Glücksbringer im Auto. Sie macht Familienfotos. Noch einmal wird allen bewusst, wie viel Glück der Vater hatte. Wie sieht er es selbst? „Ach wissen Sie“, sagt Peter Schwarz, „meine Einstellung ist: Der Tod gehört zum Leben dazu wie die Geburt.“ – „Der Schock kommt vielleicht erst noch bei ihm“, meint seine Frau.

Ein Signal für die ganze Republik

Vor der Flut habe er an vieles nicht mehr richtig geglaubt, sagt Bürgermeister Harsch. „Auch nicht mehr an unsere Gesellschaft.“ Bei allem, was man anpacken will, gebe es erbitterte Gegner, auf keinen gemeinsamen Nenner komme man noch, nirgends. „Wenn wir hier Windräder bauen, die dem Ort und der Umwelt nützen, kommt der Nabu und geht gerichtlich dagegen vor.“ Überall nur noch Stellungskriege, nichts bewegt sich mehr im Land. „Aber jetzt glaube ich wieder an die Menschheit. Es ist eine außergewöhnliche Zeit.“

Mit der Flut sind alle Gräben überwunden. „Davon können wir noch Jahrzehnte zehren“, sagt Frank Harsch. Die Braunsbacher könnten den Ort jetzt neu erschaffen: „keine hässlichen Parkplätze, keine Fertigbauten, keine kalten Edelstahlgeländer“. Sie hätten jetzt die Chance, diesen neuen Geist in den Alltag hinüberzuretten. Harsch hat eine Vision: „Dass von unserer Gemeinde ein Signal ausgeht und damit die ganze Republik ergreift.“