Chordirektor Manuel Pujol Foto: Oper/Matthias Braus

Beim Neujahrskonzert im Stuttgarter Opernhaus begeistern Staatsorchester und Staatsopernchor.

Warum erfreut sich das Neujahrskonzert des Stuttgarter Staatsorchesters so anhaltend großer Beliebtheit, sodass am frühen Abend des ersten Tages im Jahr die Bude; pardon: das Opernhaus immer voll ist? Unsere Vermutung: weil dieses Konzert gerade keine Routinen kennt, sondern sich jedes Jahr mit starkem neuen Akzent präsentiert. Man geht immer anders heim, als man zuvor gekommen ist.

 

So stand denn der musikalische Jahresauftakt diesmal im Zeichen des Staatsopernchores, dessen Sängerinnen und Sänger auf der Opernhausbühne hinter den Reihen des Staatsorchesters Aufstellung bezogen, wofür sie ausnahmsweise mal eben nicht in mehr oder weniger überzeugenden Kostümen mehr oder weniger überzeugender Opern-Neuinszenierungen gekleidet waren, sondern überaus schmuck in dunkler Abendrobe oder Frack. Derweil übernahm der Chordirektor Manuel Pujol vorn am Dirigentenpult die musikalische Gesamtleitung.

Unerhört präsent

Nun weiß der Stuttgarter Operngänger ja längst, dass der hiesige Opernchor zu den international besten zählt. Das Konzerterlebnis am Mittwoch wirkte dennoch ganz frisch, denn hier war das Orchester eben nicht im Graben versenkt und der Chor nicht zwischen Kulissen verteilt, sondern beide waren in toto auf der Bühne und damit in besonderer klanglicher Präsenz. Und dies auch nicht im Konzert-, sondern im Opernsaal mit seiner satten, knuffigen Akustik. Kurzum: man war als Hörer umgehend überwältigt.

Bei der Zusammenstellung des Programms war Pujol allerdings auch in die Vollen gegangen. Schon beim Auftakt der Festwiesen-Szene aus Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ glänzten Chor und Orchester und schufen schiere Klangpracht, ohne je donnernd oder gar scheppernd zu werden. So ging es dann gerade weiter mit Partien aus Gounods „Faust“, „Hoffmanns Erzählungen“ von Offenbach, Bizets „Carmen“ sowie nach der Pause Verdi en masse.

Aber Manuel Pujol wusste auch schlau Einschnitte zu setzen. Dem wunderbaren Stuttgarter Tenor Kai Kluge war es gegeben, die Klein-Zack-Nummer aus Offenbachs „Erzählungen“ gemeinsam mit dem Chor zur veritablen Inszenierung ganz ohne Bühnenbild zu gestalten. Der ebenso wunderbaren Stuttgarter Sopranistin Claudia Muschio gelang selbiges, diesmal ohne Chor, mit der Gilda-Liebesarie aus „Rigoletto“. Und zwischen die Opulenz von „La Traviata“ und „Aida“ setzte Pujol das „Patria opressa“, den schemenhaften Auftritt schottischer Flüchtlinge aus „Macbeth“. Heimat, tief geschunden: Selten hört und sieht man dies in Inszenierungen klanglich so abgründig, aber auch klar und filigran vor sich ausgebreitet wie hier im Zusammenspiel von Staatsorchester und Opernchor. Fabelhaft.

Nur die Zukunft ist ungewiss

Nach zwei weiteren Verdi-Zugaben – dem Muschio-Kluge-Duett „Libiamo ne’ lieti calici“ aus „La Traviata“ und dem „Vedi!“-Chor aus dem „Troubadour“ – blieb dem Publikum dann nur noch Jubel im Stehen. Und wenn nun spätestens an dieser Stelle ein unbeteiligter Leser den Einwand erheben mag, all das hier Beschriebene klinge doch arg nach Opernchor-Wunschkonzert, müssen wir entgegnen: Die an diesem Ort zu erlebende musikalische Qualität ist nur möglich an einem Ort, wo mit größter Energie und Ernsthaftigkeit an höchster Qualität gearbeitet wird. Ja, vielleicht war das Konzert auch ein wenig Leistungsschau, vor allem war es große Kunst. Und der einzige Wermutstropfen, der einem beim ansonsten beschwingten Heimweg durch den Sinn ging, war dieser: Wann endlich schafft es das hiesige Rathaus, eine Debatte über die Zukunft des Opernhauses zu führen, die dem Rang und der Strahlkraft der Staatstheater gerecht wird?