Paul Maar hält an seinem 70. Geburtstag 2007 seinen Bestseller „Eine Woche voller Samstage“ in die Kamera. Foto: dpa/Marcus Führer

„Wie alles kam“ ist keine gewöhnliche Autobiografie, sondern der Roman einer Kindheit. Paul Maar macht darin das schwierige Verhältnis zu seinem Vater zum Motor der Erzählung.

Stuttgart - Paul Maar ist einer der Autoren, dessen Bücher heute in fast jedem Kinderzimmer im Regal stehen. Auch viele der Eltern sind bereits mit seinen Geschichten groß geworden, mit der von Herrn Bello vielleicht, der durch einen blauen Wundertrunk vom Vierbeiner zum Menschen mutiert, auf alle Fälle aber mit der vom Sams, das mit seinen Wunschpunkten das Leben von Herrn Taschenbier auf den Kopf stellt. Faszinierend an Paul Maars Kinderbüchern ist, dass der Autor sich ein sehr eigenwilliges Personal ersonnen hat und es mit liebenswertem Humor bis heute begleitet. Maar ist auch ein genialer Sprachspieler – und ein Kämpfer für die Ausweitung der Fantasiezone. Immer wieder lädt er seine Leser dazu ein, unvorbelastet auf die Welt zu schauen.

Doch wie schaut man unvorbelastet auf das eigene Leben? Vor allem, wenn man wie Paul Maar kein ungetrübtes Verhältnis zu den eigenen Anfängen hat; in einem Interview hatte er den Umgang von Kinderbuchautoren mit der eigenen Biografie einmal so geschildert: „Entweder waren sie so wohlbehütet wie Astrid Lindgren, die von dieser sonnigen Kindheit zehrte. Oder aber sie hatten es schwer und erfinden sich später die Kindheit, die sie nicht gehabt hatten. Ich zähle mich zu den Zweiten.“ Wie alles hätte sein können: davon erzählen Paul Maars Kinderbücher. Wie das wirkliche Leben spielte, davon erzählt Paul Maar in seinem aktuellen Buch „Wie alles kam“. Mit ihm wendet sich der heute 83-jährige Autor mal nicht an sein Stammpublikum. Vielmehr blickt er mit großer Nachdenklichkeit zurück auf den eigenen Weg, „Roman meiner Kindheit“ nennt der Autor sein Werk im Untertitel.

Überlanger Schatten des Vaters

Paul Maar bietet keine sonnigen Fiktionen, um die Schatten der eigenen Kindheit auszublenden. Vom Ende her betrachtet, will er klarer im eigenen Leben sehen, das Erlebte neu bewerten. Eine trockene Autobiografie ist „Wie alles kam“ auf keinen Fall, eher eine Sammlung sehr persönlicher, oft melancholisch gefärbter Erinnerungsbilder. Und die Geschichte einer Emanzipation: Das schwierige, von Missverständnissen geprägte Verhältnis zum eigenen Vater macht Maar zum Motor seiner Memoiren.

„Der Schatten meines Vaters“ heißt eines der ersten Kapitel. Es erzählt vom strengen Patriarchen, einem ehemaligen Turner, der sich auch den Sohn stark und sportlich wünscht, der sich selbst, als er 92-jährig dem Tod ins Auge blickt, nicht helfen lässt. Und er erzählt vom Sohn, einem Bücherwurm und Stubenhocker, dem es nicht gelingt, den spät aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vater neu anzunehmen und sich dessen Angeboten verweigert. „Der einzige Weg für ihn, Nähe herzustellen, war mich zu schlagen. Da musste ich auf ihn reagieren, weinen, schreien, seine Nähe akzeptieren. Das verselbstständigte sich zur Gewohnheit“, analysiert der Autor die schwierige Beziehung in der Rückschau.

Die große Liebe kam im roten Kabinenroller

Die Eckdaten aus Paul Maars Biografie sind bekannt: Die leibliche Mutter starb kurz nach Paul Maars Geburt, die Stiefmutter floh mit dem kleinen Paul aus dem von Luftangriffen erschütterten Schweinfurt aufs Land zu ihren Eltern. Die Zeit im fränkischen Obertheres kommt mit Jungenstreichen und Flussfahrten trotz der Kriegskulisse tatsächlich dem behüteten Glück nah, von dem sonst Astrid Lindgren erzählt. Doch mit der Rückkehr nach Schweinfurt kommen Gängeleien, die man heute als Mobbing bezeichnen würde, falsche Freunde und der aus dem Krieg zurückgekehrte Vater ins Spiel.

Sehr spannend und lesenswert ist das alles, weil Paul Maar mit großer Kunst Entferntes zusammenbringt. Anrührend erzählt er etwa von der fortschreitenden Demenz seiner Frau und wie er sie trickreich von unsinnigen Vorhaben abbringt, etwa dem frühmorgendlichen Plan, in die Schule zu fahren. „Es ist absurd“, schreibt Maar. „Sie liegt neben mir, und ich bin sicher, dass sie in die Schule fahren will, um mich, den achtzehnjährigen Mitschüler, dort zu treffen.“

Und schon ist Maar mittendrin in der Erzählung, wie in der Abschlussklasse am Humboldt-Gymnasium in Schweinfurt nicht nur die exotische Nele mit einem flammend roten Messerschmitt-Kabinenroller in sein Leben fuhr, sondern auch die Kunst. Das Malen ist seins, später wird er in Stuttgart an der Kunstakademie studieren und am Gymnasium in Crailsheim als Kunstlehrer unterrichten. Franz ist der Dichter im Freundeskreis, Paul will keine Konkurrenz sein. Erst als Franz jung stirbt, wagt er sich vor. „Im Rückblick kommt es mir vor, als habe Franzens Tod in mir eine Weiche umgestellt“, notiert Paul Maar.

Es braucht Witz, Mut und Frechheit

Später wird er als Autor das Sams erfinden und deutet in „Wie alles kam“ an, warum das freche Wesen durchaus als Alter Ego des Autors gelten kann. Als sein Vater einen Buchprüfer anstellte und nur übellaunig mit diesem umging, war das für den jungen Paul wie eine Offenbarung. „Herr Werner war schüchtern, still, fast kontaktgestört, er sprach von sich aus nie einen Erwachsenen an, und wartete, bis man das Wort an ihn richtete“, beschreibt er den Angestellten quasi als Ebenbild von Herrn Taschenbier. „Wenn ich Herrn Werner beobachtete, schien es mir manchmal, als habe ihn mir ein warnendes Schicksal vor Augen gestellt, um mir vorzuführen, wie ich als Erwachsener einmal sein würde, wenn ich nicht meine Schüchternheit und die Abhängigkeit von meinem Vater ablegen würde.“ Als erwachsener Autor stellte er dem Herrn Werner alias Taschenbier (und auch sich selbst) mit dem Sams eine Figur zur Seite, „die all das verkörpert und im Übermaß besitzt, was ihm abgeht: Lebensfreude, Witz, Mut, Selbstsicherheit und eine große Portion Frechheit“.

„Wie alles kam“ endet vor Maars Stuttgarter Zeit, die Tagebücher seiner studentischen Jahre seien auf ungeklärte Weise verschwunden, schreibt der Kinderbuchautor. Schade, man hätte gern mehr über diese Zeit erfahren und ob es tatsächlich Paul Maars strenge Vermieterin aus Bad Cannstatt war, die zum Vorbild für Frau Rotkohl wurde.

Paul Maar: Wie alles kam – Roman meiner Kindheit. Fischer-Verlag. 304 Seiten. 22 Euro