Szene aus „Lieben Sie Gershwin?“ Foto: Jeanette Bak

Tatsächlich darf der Tanz den Protagonisten auch mal in die Füße fahren. Trotzdem bleibt sich Marco Goecke treu und findet für Gauthier Dance im Theaterhaus Antworten, die erstaunen.

Stuttgart - Die Frage bleibt den ganzen Abend über präsent. „Lieben Sie Gershwin?“, lässt Marco Goecke die Protagonisten von Gauthier Dance vielsprachig wispern, „Gershwin? Gershwin?“, echot es immer wieder. Ja? Nein? Die Antwort darf jeder im Publikum für sich selbst finden. Und sie wird mal so, mal so ausfallen, so unterschiedlich sind die neun Musikstücke George Gershwins, die Marco Goecke mit Hilfe von insgesamt 14 Tänzern auf die Bühne bringt.

Egal, ob ein Orchester mit der Wucht einer Dampflok auftaucht, ob Klänge zart wie in einer Pianobar flirren: Marco Goecke inszeniert den Tanz als solistischen Souverän. Hat das Coronavirus die großen Abstände diktiert? Bewusst gesetzt wirkt die Distanz, mit welcher der Tanz hier auftritt. Mit kantigen Gesten behauptet er sich, mit frechem Lachen verweigert er sich – und stellt seine Emanzipation so selbstbewusst zur Schau, dass die Musik den Tänzern tatsächlich, und das ist für Marco Goecke fast verblüffend, auch mal in die Füße fahren darf.

Der Schock eines besonderen Sommers

Gleich zu Beginn ist das so, wenn Janis Joplin in „Summertime“ die Leichtigkeit dieser Jahreszeit besingt, und sich in ihrer heiseren Bluesstimme doch Abgründe auftun. Theophilus Veselý verstreut dazu Pirouetten mit einer Lockerheit im Raum, als tanze ein Schmetterling über eine Sommerwiese. Und doch hält er immer wieder inne, insistiert mit fast zornigen Handgriffen, wischt sich mit ungläubigen Gesten die Sicht frei. Mit einer intensiven, fast schmerzhaften Präsenz, die mit einiger Sicherheit dieses Solo wie einst Goeckes „Äffi“ zum beliebten Galahit machen wird, gelingt es diesem unglaublichen Tänzer, den Schock und die Zuversicht eines besonderen Sommers für uns zu bewahren.

Acht Monate ohne eine einzige Vorstellung? Auch Eric Gauthier staunt in seiner kurzen Ansprache vor der Premiere von „Lieben Sie Gershwin?“ am Mittwoch noch einmal über die Zeit, die hinter ihm und seiner Kompanie liegt. „Eine solche Lust zu tanzen war nie“, schreibt er im Programmheft. Beim Blick in die mit 235 Zuschauern ausverkaufte große Halle im Theaterhaus fühlt er sich an die erste Vorstellung seiner Kompanie erinnert: „Das war exakt vor 13 Jahren mit exakt dieser Menge an Zuschauern – und ich bin genauso aufgeregt.“

Auch Tamas Detrich war zu Gast

Die Rückkehr von Gauthier Dance war auch für die Stuttgarter Tanzszene ein besonderer Moment. Viele Weggenossen vom Stuttgarter Ballett, wo Marco Goecke von 2005 bis 2018 Hauschoreograf war, saßen im Publikum. Und dass auch Intendant Tamas Detrich bei der Premiere dabei sein wollte, lässt ahnen: Die Wogen um die Nichtverlängerung von Goeckes Vertrag haben sich geglättet, gemeinsame Projekt scheinen so wieder möglich.

Nachdem die aufgestaute Energie durchs „Summertime“-Ventil raus ist, klingen nachdenkliche Töne an. Sarah Vaughan singt vom unerreichbaren Liebhaber, Sophie Tucker vom Warten auf die große Liebe. Marco Goecke erzählt dazu von einer Zeit des stillen Begehrens und der Einsamkeit sowie einer neu entflammten Liebe zum Leben. Und immer, wenn man meint, sich an flirrenden Pianofingern, chaplinesk watschelnden Füßen oder nervös die Luft zersägenden Händen sattgesehen zu haben, findet er eine neue Wendung.

Dann sprießen auf den schwarzen Hemden rote Blumen, tritt ein Tänzer, geduckt wie ein Eisschnellläufer, mit Steppschritten auf der Stelle, tanzen schwarz bemalte Lippen in einer grotesken Pantomime Hoffnungsworte in ein Gesicht, lösen weite Röcke die strengen Silhouetten zweier Tänzer, bringen Paneele mit flirrender Spiegelfolie endlich mehr als drei Tänzer ins Spiel, kommen endlich nach all den Paaren, die kurz und mit viel Abstand ihre ungestillte Sehnsucht darlegten, sich zwei Tänzerinnen leibhaftig näher.

Garazi Perez Oloriz und Anneleen Dedroog dürfen das, da sie zusammenwohnen. Und Marco Goecke dirigiert die beiden ohne jeden Überschwang aufeinander zu, lässt sie staunend den Moment der Nähe auskosten, der so zur erlösenden Geste zweier Überlebender wird. Ein Gedicht der polnischen Lyrikerin Wislawa Szymborska, „Nichts geschieht ein zweites Mal“ sein Titel, wird zum Leitmotiv ihres gestenreichen, auf die Oberkörper reduzierten Duetts, „wir kommen untrainiert zur Welt/und sterben ohne Routine“ heißt es darin. Ebenso schaut man wieder einmal mit der Verblüffung des ersten Moments auf Goeckes Kosmos. „Lieben Sie Gershwin?“: Das Premierenpublikum beantwortet die einstündige Fragerunde mit langem Applaus.

Weitere Vorstellungen im Theaterhaus bis zum 12. Oktober und dann wieder vom 18. bis zum 22. November.