Sie ist weiter im Spiel: Joanne K. Rowling Foto: Invision

Seit Jahren warten die Fans darauf, nun geht Harry Potter tatsächlich in die achte Runde: In London präsentiert die Autorin Joanne K. Rowling ein Stück und ein Buch, das tatsächlich neue Dimensionen eröffnet. Aber meint sie es auch ernst?

London - Zum Abschied hieß es: „Keep the Secret!“ Alle Besucher der Vor-Aufführungen von „Harry Potter and the Cursed Child“ im Londoner Palace Theatre bekamen in den vergangenen Wochen am Ausgang einen Sticker mit dieser Aufschrift. Gemeint war eine Selbstverpflichtung: „Plaudert nicht aus, was Ihr hier gesehen habt. Nehmt den anderen Harry-Potter-Fans nicht den Spaß“. Das hat erstaunlich gut geklappt. Außer einigen Grunddaten zur Handlung sickerte fast nichts durch von jener Geschichte, auf die überall auf der Welt Millionen von Fans gespannt warten – die Fortsetzung der Harry-Potter-Saga aus der Feder der britischen Schriftstellerin Joanne K. Rowling.

Nun ist nicht nur die offizielle Uraufführung der Theaterproduktion am vergangenen Samstag über die Bühne gegangen. Seit Sonntag null Uhr ist auch das Manuskript des Stückes als gebundenes Buch oder digital auf dem englischen Markt, die Geheimnisse sind also unwiderruflich im Licht der Öffentlichkeit. Trotzdem und zur Beruhigung für alle Fans unter unseren Lesern: Auch dieser Artikel fühlt sich dem Ehrenwort verpflichtet – „Keep the Secret!“ Hier, in diesem Artikel, werden von der Handlung keine Details verraten, die einem Freund des Zauberinternats von Hogwarts den Spaß und die Überraschung verderben könnten (die deutsche Buchübersetzung erscheint am 24. September). Denn, dies sei schon einmal auf den Punkt gebracht: „Harry Potter and the Cursed Child“ ist eine Riesenüberraschung! Ein frappierend gut gemachter Volltreffer, der alle Lügen straft, die vermuteten, Joanne K. Rowling könne womöglich über all ihrem Erfolg die Fantasie abhanden gekommen sein. Ganz im Gegenteil: Mit dieser achten Folge ihrer Saga könnte sie ihre Potter-Welt tatsächlich in die nächste Generation katapultieren. Wenn . . . , und das ist die nunmehr wirklich große Frage: Wenn sie es denn wirklich will!

Kein Zweifel: das Stück erzählt von Rowlings Welt

Denn eines muss allen klar sein und ist absolut kein Geheimins: Weder das Theaterstück noch der Theatertext im neuen Buch namens „Harry Potter and the Cursed Child“ (auf Deutsch wird der Titel sein: „Harry Potter und das verwunschene Kind“) stammen von Joanne K. Rowling. Der Autor heißt Jack Thorne und ist ein 37-jähriger englischer Drehbuchautor. Ganz offiziell ist die Rowling jenem Prinzip treu geblieben, das sie 2007 in einem Interview mit der Tageszeitung „Guardian“ bekundet hat: „Ich habe am 11. Januar in einem Hotelzimmer in Edinburgh die letzte Zeile des letzten Bandes geschrieben und mich von Harry Potter verabschiedet. Es wird keine weiteren Harry-Potter-Romane geben.“ In Wirklichkeit aber, mit Verlaub, hat sie ein knappes Jahrzehnt später das Tor weit geöffnet für viele neue Potter-Abenteuer. Das, was die Fans auf der Theaterbühne sehen oder im Buch lesen können, das ist über jeden Zweifel erhaben ihre, Rowlings Welt, das sind ihre Ideen, das ist ihre Sprache, ihr Tempo, ihr Humor. Es ist vor allem ihre Haltung.

Der Autor des Stücks heißt Jack Thorne

Aber zur Sicherheit der offizielle Cover-Titel en détail: „Harry Potter and the Cursed Child. Based on an original new story by J. K. Rowling, John Tiffany, Jack Thorne. Play by Jack Thorne“. Entstanden ist das Werk im Team mit dem Bühnenregisseur Tiffany und dem Dramatiker Thorne. „Ich habe schon immer das Theater geliebt“, erläutert die Rowling dazu in London. „Aber ich habe viel zu große Hochachtung vor der Bühne, ich musste mit wirklichen Profis zusammenarbeiten“. So bleibt man seinen Grundsätzen treu und ist doch offen für neue Seiten. Rowling ist ja am Sonntag gerade erst 51 Jahre alt geworden.

Als sie sich während einer Zugfahrt von Manchester nach London 1990 die ersten Notizen über einen auf der Stirn vernarbten Zauberschüler machte, war sie gerade 25, alleinerziehende Mutter und lebte von sehr magerer britischer Sozialhilfe. Das fertige Manuskript „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“ musste sie bei den Verlagen wie sauer Bier anbieten; niemand traute der Mrs. No-Name einen Erfolg zu. Die ersten zwei Bände lagen lange Zeit unbeachtet in den Regalen. Keine Werbekampagne, kein PR-Trick, allein die Mund-zu-Mund-Propaganda der jungen Leser führte zum Erfolg. Mit dem dritten Band „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ (Fans sagen kurz: HP 3) wurde die Reihe Ende 1999 zum Bestseller, mit der ersten Verfilmung 2001 zum weltweiten Hype.

Mit 35 Jahren wurde Rowling zur Millionärin und zu einer der bekanntesten lebenden Autorinnen. Das traf sie weitgehend unvorbereitet. Drei Jahre dauerte die Schaffens-Schock-Pause zwischen Band 4 und 5 (2003) – die in der Öffentlichkeit weiterhin eher scheue blonde Frau sah sich plötzlich unter dem Erfolgsdruck einer globalen Fangemeinde, aber auch im Korsett ihres engen Konzeptes. Sieben Bände, so hatte sie immer angekündigt, sollte die HP-Reihe währen, für jedes Schuljahr in Hogwarts ein Band, und zum Schluss ein großes Finale, das ein für alle Mal klärt, ob nun das Gute oder das Schlechte siegt. Spätestens seit dem letzten Film 2011 („Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“) ist die Geschichte also eigentlich auserzählt.

Das Manuskript liest sich dank seiner Dialoge fast wie ein Roman

„Ich glaube, ich bin seitdem jedem Tag fünfmal gefragt worden, ob ich nicht einen neuen Harry-Potter-Roman schreiben will“. Und, nein: sie will es nicht. Stattdessen hat sie ganz andere, gänzlich unmagische Sache geschrieben, eine bitterböse Sozialstory aus der englischen Provinz („Ein plötzlicher Todesfall“, 2012), drei sehr dichte Kriminalromane im besten angelsächsischen Stil (unter dem Pseudonym Robert Galbraith). Aber jetzt gibt es eben plötzlich auch dieses Theaterstück – und dieses Manuskriptbuch, das sich dank seiner glänzenden Dialoge beinahe so schön liest wie ein Roman. Und selbst, wenn es stimmen sollte, dass darin keine einzige Zeile von ihr selbst stammt (was man nach Lektüre kaum glauben mag) – nun gut, dann ist es eben einfach Magie: HP, die nächste Generation!

Niemals waren die Figuren der Rowling einfach nur gut oder böse. Die Bösen waren nie ohne Grund böse, die Guten nie unanfechtbar gut. Just mit dieser Haltung war die Fantasiewelt der Rowling stets nah am wahren Leben und sympathisch unprätentiös. Warum also sollte ausgerechnet ein Zauberveteran wie Harry Potter mit 38 Jahren ein unangefochten guter und edler Vater sein? Sein Sohn Albus jedenfalls hat größte Schwierigkeit in der Hogwarts-Schule und freundet sich offenbar prompt mit den Falschen an. Es kommt, wie es kommen muss: Neunte Szene im ersten Akt – Harry Potter schreckt mit einem Schrei auf aus dem Schlaf. Seine Narbe schmerzt. Nach 22 Jahren das erste Mal. But: Keep the Secret . . .

Joanne K. Rowling kann’s: spannend, humorvoll, mitreißend erzählen – und zugleich doch auch eine Haltung zu unserer Welt haben, die auf die Werte von Mitgefühl und Zusammenhalt baut. Ja, es steht nun fest: Sie könnte weitere Potter-Romane schreiben. Das vorliegende Manuskript jedenfalls ist ein Fest für alle Fans. Es wird wohl das erste Theaterstück der Literaturgeschichte auf der internationalen Bestseller-Liste. Lumen!