Dreharbeiten für Nicki Lisztas „Dying Swans“-Beitrag am Stuttgarter Hafen Foto: Jeanette Bak/GD

In Rekordtempo hat Eric Gauthier ein Projekt für 64 Künstler auf die Beine gestellt. „The Dying Swans“ heißt es und holt für die Verbindung von Film und Tanz große Namen ins Boot.

Stuttgart - Normale Menschen würden von einem begossenen Pudel sprechen. Doch Tänzer denken in anderen zoologischen Kategorien: „The Dying Swans“, sterbende Schwäne also, heißt das neue Projekt, an der das ganze Team von Gauthier Dance derzeit auf Hochtouren arbeitet. „Die Idee dazu hatte ich bei einem Meeting“, erklärt Eric Gauthier. „Als wir die kommenden Gastspiele und Vorstellungen von ,Lieben Sie Gershwin?‘ absagen mussten, standen meine Tänzer mit hängenden Köpfen vor mir – wie sterbende Schwäne. Da hatte ich den Wunsch, sie wieder für etwas zu begeistern – und die Idee zu ,The Dying Swans Project‘: Das soll für 16 kurze Soli jeweils einen Tänzer, Choreografen, Komponisten und Filmemacher zusammenbringen.“

Gedacht für die große Leinwand

Weil Eric Gauthier ein Mann der Tat ist, hat er sofort nach Partnern gesucht, um seine vom berühmten Solo der Ballerina Anna Pawlowa inspirierte Idee umzusetzen. Dass unter den Kooperationspartnern auch Festivals wie die Ludwigsburger Schlossfestspiele, das Holland Dance Festival oder Tanz Bozen sind, zeigt, wie gut Gauthiers flexibles Format in die Coronakrise hineinpasst. Für Bühnenkünste bedeutet die Pandemie weiterhin Unsicherheit in der Planung. Film, Bühnenpräsentation oder ein Mix aus beidem? Die 16 „Dying Swans“-Soli wurden von einer international besetzen Choreografenriege vor Ort oder via Zoom erarbeitet und funktionieren im Idealfall sowohl live auf der Bühne als auch auf der Leinwand. „Ein Tanzstück auf die Bühne bringen und dann streamen? Das macht gerade alle Welt“, sagt Eric Gauthier. Ihm sei es wichtig, dass die neuen Soli vor allem cineastisch gedacht seien. „Der Beitrag der kanadischen Choreografin Virginie Brunelle ist zum Beispiel für den Königsbau entstanden, und es ist wunderschön, wie sich der Tanz zwischen den Säulen entwickelt“, berichtet Eric Gauthier begeistert von einem der ersten Drehtage in der Stadt.

Hilfe für Künstler vor Ort

Wichtig sei ihm bei diesem Projekt auch gewesen, so Eric Gauthier, „dass Künstler aus Stuttgart Arbeit bekommen“. Komponisten wie Roderick Vanderstraeten sind mit von der Partie und Kameraspezialisten wie Rainhardt Albrecht. Und unter den Choreografen, die von Bridget Breiner über Constanza Macras bis Elisabeth Schilling tatsächlich mehrheitlich Choreografinnen sind, finden sich Künstlerinnen aus der freien Szene wie Smadar Goshen.

Auch Nicki Liszta, mit ihrem Backsteinhaus-Team seit mehreren Spielzeiten im Theater Rampe zu Hause, ist mit im Boot. Als die Einladung von Eric Gauthier kam, hoffte die Choreografin noch, zum angefragten Termin mit einer eigenen Produktion auf Tournee zu sein. Doch weil die Gastspielreise wie so vieles in der Coronakrise abgesagt werden musste, freut sich Nicki Liszta, als wir sie im Proberaum von Gauthier Dance am Löwentor treffen, darüber, eine Alternative zu haben. Gerade der filmische Aspekt hat sie am Solo für die Gauthier-Tänzerin Luiza Avraam fasziniert, auch Musik und Kamera kommen vom Backsteinhaus-Team. „Der Reiz für mich liegt darin, dass wir ein reines Video erarbeiten und kein Zwischending machen“, sagt die Choreografin. „Für einen Film denke ich ganz anders als für die Bühne. Jetzt kann ich mit verschiedenen Blickwinkeln arbeiten, mit Close-ups, mit einzelnen Bildern.“ Ein Solo für die Bühne sei für sie keine Option gewesen, sagt Nicki Liszta. „Dafür brauche ich keinen Film. Und was Innenräume angeht, bin ich auch ein bisschen coronageschädigt.“

Was Nicki Liszta plant

Aufgezeichnet wurde das Solo an einem sonnigen Samstag im Stuttgarter Hafen und an einem idyllischen Bachlauf. Die Idee des sterbenden Schwans habe in ihr die Assoziation an erdölverschmierte Vögel ausgelöst, schildert die Choreografin. Dem Hafen als Ort der Industrialisierung und Globalisierung stellt sie die unberührte Natur als Sehnsuchtsort gegenüber. „Die Tänzerin steht für eine Person, die hin- und hergerissen ist und für sich eine Entscheidung sucht, wie sie mit dem Dilemma des Menschseins klarkommt“, sagt Nicki Liszta. Überlange Ärmel am Shirt der Tänzerin sollen, so Lisztas Idee, die Unfähigkeit des Menschen veranschaulichen, die Dinge in die Hand zu nehmen „und etwas zu verändern“.

Ein Schwan als Hoffnungszeichen

Der Mensch und sein Wachstumswahn als Störfaktor – auch die Coronakrise kann davon erzählen. Die Bühnenkünstler hat sie mit voller Wucht getroffen, und Eric Gauthier freut sich, mit dem „Dying Swan Project“ einigen für eine begrenzte Zeit Hoffnung zu geben. Ganz zufällig seien die Vierer-Konstellationen zusammengekommen, erzählt der kreative Kopf von Gauthier Dance. „Mauro Bigonzetti wollte unbedingt mit Garazi Perez Oloriz zusammenarbeiten, Constanza Macras wünschte sich eine weibliche Tänzerin, Bridget Breiner brachte ihren Bruder mit, einen Saxofonisten. Aber ansonsten waren alle offen für jeden“, so Eric Gauthier. Große Namen wie Edward Clug sorgen für internationale Aufmerksamkeit, wenn das Projekt am 16. April auf dem Youtube-Kanal des Theaterhauses seine Online-Premiere feiert. Und auch für eine mögliche Bühnenpremiere hat Eric Gauthier schon viele Ideen. „Ich fände es toll, wenn unsere Tänzerin Bruna Andrade den sterbenden Schwan in Michel Fokines ikonischer Originalchoreografie zeigen könnte und so der Weg zu den modernen Versionen klarer wird“, plant Gauthier nach vorn. Schule mache seine Idee bei anderen Ballettchefs auch schon. „Mark McClain aus Coburg und Ivan Liska, der das Junior Ballett in München leitet, haben bei mir angefragt, ob sie das Konzept für ähnliche Projekte übernehmen dürfen.“

Info:

Internet: 64 Künstler und Künstlerinnen aus den Sparten Tanz, Choreografie, Musik und Film bringt „The Dying Swans Project“ für 16 Soli zusammen. Neben internationalen Festivals und der Daimler-Initiative „be a mover“ hat Eric Gauthier weitere Akteure ins Boot geholt. Neben den koproduzierenden Veranstaltern gibt es eine Partnerschaft mit 3sat. Der TV-Sender nimmt alle 16 Soli in seine Mediathek auf, acht davon werden ausgestrahlt. Am 16. April findet um 10 Uhr zeitgleich der Online-Launch auf den Social-Media-Kanälen des Theaterhauses und in der 3sat-Mediathek statt.

Bühne: Unter dem Titel „The Dying Swans Live Experience“ soll das Projekt am 22. Mai bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen Bühnenpremiere feiern. Der Vorverkauf für die insgesamt vier Vorstellungen am 22. und 23. Mai 2021 startet Mitte April direkt bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen. Im Herbst wird die Aufführung dann auch im Theaterhaus zu sehen sein und international auf Tour gehen.