Rainer Wochele zeigt einen Querschnitt des alltäglichen Lebens. Foto: Andreas Weise/factum

Der Stuttgarter Autor Rainer Wochele legt ein ungewöhnliches Buch vor: „An der Raststätte“ erzählt von Menschen, die auf der A 8 einen Rasthof ansteuern. Wochele schreibt nüchtern und undramatisch, auch wenn sich Dramatisches abspielt.

Stuttgart - Grenzenlose Mobilität – das ist eine der Glücksverheißungen der modernen Gesellschaft, zu Gestalt geworden in einem feingliedrigen Netz an Autobahnen, die sich über das Land erstrecken. Hier gibt es keine Ampeln, keine Zebrastreifen, keine Kreuzungen. Ohne Halt lässt sich so im Fahrzeug reisen über Stunden und Hunderte von Kilometern hinweg – in der Theorie. Und wer trotzdem einmal stoppen will, weil Hunger, Durst, Schläfrigkeit, Rückenschmerzen oder andere Nöte ihn bedrängen, der hat dafür nur sehr begrenzte Möglichkeiten. Eine davon ist die Raststätte – schon viele Kilometer im Voraus angekündigt auf großen blauen Schildern, auf denen als Logo eine Zapfsäule, eine Tasse oder ein gekreuztes Besteck zu sehen sind.

Mit diesen Symbolen lädt auch der Stuttgarter Autor Rainer Wocheleauf dem Cover seines jüngsten Werkes ein. „An der Raststätte. Eine Exkursion“ heißt sein neues Buch, das im endlosen Fluss der Fahrzeuge auf der Autobahn irgendwo auf der A 8 von und nach Ulm den Fokus auf eine kleine, aber genau gegliederte Kette an Einzelschicksalen richtet. Ob Monteur oder Landtagsabgeordneter, Zeitungsausträgerin oder zerfendes Ehepaar, Metzgermeister oder Kunstsammler – für die Länge von ein oder zwei Buchseiten macht Wochele sie zu Helden kleiner Beschreibungen, wie sie da im Strom der Zeit und des Verkehrs den Rasthof ansteuern oder wieder wegfahren.

Fremdtexte ergänzen die literarischen Schnappschüsse

Wobei der Begriff Schicksal leicht auf die falsche Fährte führt. Ab und an klingt tatsächlich Dramatisches an; hier ist von einer bevorstehenden Beerdigung die Rede, dort sind Flüchtlingsschleuser unterwegs. Aber im Kern interessiert sich dieses Buch doch eher für einen großen Querschnitt durch das alltägliche Leben. Kurioses und Tragisches stehen unmittelbar nebeneinander, aus vielen Einzelbildern wächst über rund hundert Seiten ein Ganzes – und ist doch zum Schluss wieder nur das offene Ganze eines Augenblicks, in der nächsten Sekunde schon wieder überholt von ganz anderen, hier noch nicht erzählten Geschichten.

Rainer Wochele ergänzt diese literarischen Schnappschüsse mit anderen Textbausteinen: mit Erinnerungen an die Anfänge des Autobahnbaus in den 1920er und 30er Jahren, mit Selbstdarstellungen von Lkw-Berufsfahrern und mit Werbetexten für Automobile. So ergibt sich eine bemerkenswerte Spannung zwischen dem schönen Schein professioneller Unterwegs-Prosa und dem wahren Sein existenzieller Niederungen. So politisch aufgeladen oder unfreiwillig überladen die hier integrierten Fremdtexte häufig wirken, Wochele selbst schreibt in scharfem Kontrast dazu nüchtern, präzise und betont undramatisch. Alles, von dem wir hier in aller Flüchtigkeit Augenzeuge werden, ist alltäglich und normal. Und selbst wenn, um beim Beispiel zu bleiben, den beiden Fahrern des Kastenwagens allmählich bewusst wird, dass die hinter ihnen eingesperrten Flüchtlinge vermutlich aus schlimmstem Grund keinen Laut mehr von sich geben, hält das den Erzählfluss nicht auf. An solch einem Punkt zeigt sich die Stärke des Bandes.

„Sie kommen, sie fahren. Und einmal Pommes mit Ketchup“: So weiß Wochele die ganze Wirklichkeit einer letztlich klitzekleinen Unterbrechung auf der Lebensfahrt ebenso lapidar wie treffend zusammenzufassen. Diese Rast lohnt. Die Buchpremiere findet am 24. September in der Stiftung Geißstraße in Stuttgart statt.